Der Tod als Lehrer

Das Jahr 2014 ging zu Ende und an meiner eigenen Praxis hat sich nichts geändert. Yoga, Reiki, Meditation und Atemübungen wurden jeden Tag bzw. jede Nacht, wenn alle schliefen, praktiziert. Ich kümmerte mich um den Haushalt, unterrichtete privat Yoga oder gab Unterricht im Studio. 

Über Silvester waren wir mit meinen Kindern in Berlin. Es war laut und kalt. Ich traf meine Familie. Weil ich stiller geworden bin und mehr beobachte, ist mir aufgefallen, wie sehr hier alles beim Alten geblieben ist. Die gleichen Muster und Bahnen. Es ist noch immer sehr schwer, mich davon nicht überrollen und verschlingen zu lassen. 

Tagebuch 02.01.2015: 

Alle sind ausgeflogen und ich bin allein in der Wohnung. Kann mich hier erholen von den Menschen, den vielen Eindrücken und dem Silvesterkrach. Alle hat es in die Kaufhäuser zum Einkaufen getrieben. Die Umschläge von meinen Eltern mit Geld für meine Kinder und mich könnten hier die Ursache sein. Steckt da auch schlechtes Gewissen drin oder der Ersatz für Gespräche? Wieso habe ich nach jedem Aufenthalt immer das Gefühl, ich möchte nie wieder nach Deutschland kommen?” 

Neben Hüthers Buch “Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn” las ich parallel weiter in den Upanischaden und beschäftigte mich auch mit den Schriften von Babajis Kriya Yoga. Letzteres war für mich besonders wichtig geworden, weil ich von dieser Organisation zu einer Reise nach Indien eingeladen worden bin. 

Ehrlich gesagt regte mich dieser Gedanke an eine Indienreise damals ziemlich auf. Tatsächlich hatte ich nie daran gedacht, nach Indien zu gehen. Ich hielt es nicht für notwendig und außerdem hatte ich auch nicht die finanziellen Mittel hierfür. Allerdings war ich auch schon an einem Punkt angekommen, wo ich begriff, dass das Geld schon kommen würde, wenn die Reise erforderlich und wichtig für mich wäre. 

Ich las also ein Interview mit dem Leiter dieser Gruppe und musste mich wieder mit ganz neuen Begriffen, Vorstellungen und Konzepten auseinandersetzen, nämlich den verschiedenen Yoga-Richtungen, deren Erscheinungen, Ritualen, Schriften und Regeln etc. Auch, dass es mehrere Formen des Vedanta gab und was Siddhanta bedeutet. Ich will euch nicht mit Einzelheiten langweilen, denn am Ende spielen diese Details keine Rolle. Aber das begreift man erst, wenn man sie studiert und verstanden hat. Es läuft stets auf das Gleiche hinaus. Es sind einfach nur verschiedene Wege, den Verstand zur Ruhe zu bringen, um sich von der Vorstellung, eine individuelle Person zu sein zu befreien und sein “wirkliches Selbst” zu erkennen. 

Babajis Kriya-Yoga jedenfalls ist eine Verbindung aus Advaita (Nichtdualität und daher monistisch), Yoga und Siddhanta. Hier nur kurze wesentliche Auszüge aus dem Yoga-Tagebuch. 

Tagebuch 06.01.2015:

“Siddhanta heißt übersetzt „das Ende des Denkens“ und Siddhas sind die perfektionierten Meister mit göttlicher Kraft. Sie stehen in Verbindung mit dem tibetischen Buddhismus und Kundalini Yoga wird hervorgehoben. Sie verurteilen institutionelle Religionen, Kasten und sonstige Abhängigkeiten. Quelle für Wissen und Weisheit soll vielmehr die eigene Erfahrung sein. 

Siddhas lebten in ganz Indien und Tibet. Die Lehre wurde nicht in Sanskrit weitergegeben, sondern in der Umgangssprache, so dass alle Menschen von dieser Weisheit profitieren konnten und nicht nur die Brahmanen, die der obersten Kaste in Indien angehörten. Ziel der Siddhas ist die vollständige Hingabe durch persönliche Anstrengung und göttliche Gnade zu erreichen. 

Dabei kommt es zur Befreiung von den drei Verunreinigungen oder Fesseln der menschlichen Seele: 

  1. der Unwissenheit der eigenen Identität und somit des Egoismus 
  2. der Folge vergangener Taten, Worte, Gedanken (Karma)
  3. Täuschung (Maya)”

Bei den Upanischaden war ich bei der Katha-Upanischad angelangt und auch hier war immer wieder die Rede vom “Selbst”. Ich wusste nicht, was das Selbst sein sollte aber es zog mich immer weiter in seinen Bann. Meine tägliche Eigenpraxis, die sich über mindestens 2 Stunden am Tag hinzog und somit fast meine ganze Freizeit beanspruchte, war mir das Wichigste geworden. Dort auf der Yoga-Matte sammelte ich mich mit den vielen Übungen und der Meditation, und von diesem Wirken aus versuchte ich dann auf die restlichen Stunden eines jeden Tages zu blicken. 

In der Katha-Upanischad tritt der Tod als Lehrer auf und sein Schüler ist ein junger Teenager, der vom eigenen Vater während eines Wutausbruchs an den Tod übergeben wurde. Weil der Junge (Nachiketa) drei Tage vor der Tür des Todes warten musste, um eingelassen zu werden, hatte er drei Wünsche frei. Er wünschte sich als erstes, dass der Zorn seines Vaters verschwinden und er ihn bei seiner Rückkehr liebend in den Arm nehmen solle. 

Der zweite Wunsch zielte darauf ab, das Feueropfer zu erlernen, denn es sei bekannt, dass dies zum Himmel führen würde, wo es weder Alter noch Sterben, noch Durst, Hunger oder Leid geben würde. Beide Wünsche wurden ihm gewährt, und als er das Feueropfer zur vollen Zufriedenheit des Todes durchführte, bekam er sogar noch eine Extra-Gunstgabe geschenkt, nämlich dass dieses Feuer seinen Namen tragen solle.

Den dritten Wunsch jedoch wollte der Tod (Yama) dem Jungen nicht erfüllen, denn er wollte vom Tod eine Antwort darauf, ob der Mensch nach dem Tode noch existiere oder nicht. Um die Frage nicht beantworten zu müssen, bot der Tod ihm alle Reichtümer, viele Söhne und Enkel, Ländereien und ein sehr langes Leben an. 

Der junge Schüler ist jedoch sehr klug und er hat allen Erwachsenen gegenüber einen großen Vorteil: Er war der materiellen Welt noch nicht verhaftet, so dass er sich nicht korrumpieren lässt. Er kennt die Religion, aber sie ist bei ihm noch nicht zu einem toten Konzept von Regeln und Verhaltensweisen geworden. Er hat einen tiefen, ehrlichen Glauben und die entschlossene Ernsthaftigkeit, die zum “Selbst” führen kann, und das soll uns darauf hinweisen, dass wir alle in der Lage sind, dieses “Selbst” zu finden, sobald wir es wirklich wollen. 

Er begreift, dass diese vom Tod angebotenen Genüsse nur bis zum nächsten Morgen vorhalten und das Leben auf Erden flüchtig ist und antwortet: “Wie können wir nach Reichtum begierig sein, wo wir doch dein Gesicht sehen und wissen, dass wir nicht leben können, solange du hier bist?”

Anschließend erhält der Schüler vom Tod selbst eine spirituelle Unterweisung hinsichtlich seiner Frage. 

Tagebuch 10.01.2015:

“Auszüge aus der Katha-Upanischad:

Immerwährende Freude oder vorübergehender

Genuss?

Zwischen ebendiesen muss man stets seine Wahl treffen. 

Die Weisen halten die zwei klar auseinander, nicht

            aber

die Unwissenden….

Weitauseinander liegen Weisheit und Unwissenheit.

Die Erstgenannte führt einen zur Selbst-

            Verwirklichung;

die zweite bewirkt, dass man dem eigenen wahren 

            Selbst

immer mehr entfremdet wird… 

Nur wenige sind es, die etwas über das Selbst

erfahren.

Noch weniger widmen ihr Leben seiner

            Verwirklichung.

Wunderbar ist derjenige, der über das Selbst spricht;

selten sind jene, die es zum höchsten Ziel ihres

            Lebens machen. 

Gesegnet sind jene, die, mit Hilfe eines erleuchteten

Lehrers zur Selbst-Verwirklichung gelangen.

Die Wahrheit des Selbst kann nicht durch jemanden 

            kommen,

der nicht innegeworden ist, dass er das Selbst ist.

Der Verstand kann das Selbst nicht aufdecken,

das ja der verstandesmäßigen Dualität von Subjekt

und Objekt entzogen ist. Jene, die sich in allen sehen

und alle auch in sich, helfen anderen durch

            spirituelle

Osmose, ihrerseits das Selbst zu realisieren…

Das allwissende Selbst wurde nie geboren,

noch wird es je sterben. Jenseits von Ursache und

            Wirkung

ist dieses Selbst ewig und unwandelbar. 

Beim Sterben des Körpers stirbt nicht das Selbst.

Wenn der Töter glaubt, er könne töten,

Oder der Getötete glaubt, er könnte getötet werden, 

kennen beide die Wahrheit nicht. 

Verborgen im Herzen eines jeden Geschöpfs

existiert das Selbst, feiner als das Feinste,

größer als das Größte.…

(Diese letzten Zeilen helfen mir gerade sehr, die Attentate in Paris zu ertragen. Wie verzweifelt die Menschen sind. Auch die, die töten wollen. Ich schaue weiter die Nachrichten und sehe Bilder aus Palästina und Syrien. Da sind nur noch Ruinen, und in diesen schmutzigen Löchern wachsen Kinder auf, die wieder töten werden, weil man ihnen alles genommen hat.)”

Als ich diese Upanischad las, machte ich mir viele Notizen. Besonders ein Erlebnis tauchte aus der Einnerung auf: Ich saß in der Bibliothek der FU Berlin. Es war Sonntag. Wenige Studenten waren da und es herrschte eine sehr angenehme und ruhige Atmosphäre. Vor mir auf dem Tisch lagen dicke Gesetzesbücher, etliche Kommentare und meine Notizen. Die Sonne schien durch die großen Fenster. Ich war dankbar und glücklich, dass ich nach all den vielen Jahren der Strapaze endlich studieren durfte. Ich hatte das Gefühl, ich käme nun irgendwie mit mir und meinem Leben voran. 

Plötzlich ein Knall. Ein kleiner Vogel flog gegen die große Fensterscheibe und stürzte tot zu Boden. Ich war wie erstarrt. Statt Stolz und Zufriedenheit war da die Frage, was machst du hier eigentlich? So schnell kann alles vorbei sein. Mein Herz sehnte sich nach meinem kleinen Baby und am liebsten wäre ich sofort nach Hause gelaufen zu meiner Familie, damit wir einen schönen Nachmittag in der Natur verbringen konnten.

Im Angesicht des Todes fiel das kurz zuvor aufgebaute Gedankengebilde, endlich irgendwer zu sein oder irgendwo angekommen zu sein, völlig in sich zusammen.

Ich konnte mich nicht mehr auf irgendwelche Paragraphen konzentrieren und weinte in mein Notizheft. Nur der unumgängliche Tod scheint in der Lage zu sein, die wesentlichen Fragen im Leben in den Vordergrund zu rücken. Wer bin ich? Was stirbt? Was bleibt übrig? Warum sind wir hier? 

Wie immer, wenn ich an einem neuen Beitrag sitze, schaue ich mir die Notizen im Yoga-Tagebuch erst im Augenblick des Schreibens an. Ich habe keine Ahnung, was ich da Jahre zuvor notierte oder was für ein neuer Blogbeitrag dabei herauskommen wird. Das ergibt sich einfach irgendwie, und am meisten staune ich wohl immer selbst darüber, was es da wieder zu schreiben gab. Hier nun ist wieder eine Tagebuch-Notiz, bei der ich Gänsehaut bekomme. 

Tagebuch 11.01.2015:

“Traum: Ich ziehe mit meiner Freundin umher. Dann schaue ich mir einen spannenden Krimi im TV an. Eine Frau läuft dort alleine durch den Schnee an einem Haus entlang und ich denke die ganze Zeit, jeden Augenblik könnte etwas Furchtbares passieren. Dann habe ich mir im Traum gesagt, das reicht jetzt und den Traum einfach beendet. 

Danach tauchten Vögel auf. Viele Raben und andere sehr große undefinierbare Vögel. Ich suchte mein Handy, denn ich wollte Fotos von ihnen machen, und in diesem Moment waren sie über mir. Sie hatten keine Angst und waren ganz zahm. Ich war erstaunt, dass sie mir so nahe kamen. Plötzlich waren es mir jedoch zu viele und es wurde mir unheimlich. Ein riesengroßer Vogel setzte sich auf mein Haupt und zog an mir. Ich hatte keine Angst aber es war unangenehm und ich rief, sie sollen ihn fortnehmen. 

Leute kamen und halfen mir und dann gingen wir in ein Haus. Dort lagen überall in den Betten Patienten. Trotzdem war es eine nette Atmosphäre. Wir verließen das Haus wieder.” 

Nie zuvor hatte ich je einen Traum bewusst im Traum beendet, weil ich ihn nicht weiterträumen wollte. Direkt mit einem Fingerschnipp ganz bewusst von meiner Angst im Leben, die sich hier im Traum darstellte, hin zum spirituellen Traum mit Vögeln. Wie hatte ich das gemacht? 

Wer mein Buch kennt, der weiß, dass es genau dieser kurze bewusste Fingerschnipp ist, der dann später auch die Gedankenkette beim Aufsteigen der Angst unterbrechen und eine Panikattacke verhindern kann. 

Immer mehr und immer wieder überschneiden sich hier, während ich schreibe, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, und das ist es, was bei mir die Gänsehaut und Erstaunen auslösen. 

Waren die Vögel im Traum meines letzten Beitrages noch klein und fast verhungert in einem Käfig eingesperrt,  flogen sie hier frei umher und waren groß, schön und stark. Aber anstatt mich von diesem zahmen Riesenvogel – also meiner eigenen Seele – davontragen zu lassen und zu fliegen, bekam ich es wieder mit der Angst zu tun und beendete alles. Ich zog es vor, ins scheinbare sichere Haus zu gehen. Dort erkannte ich jedoch, dass nur Krankheit und Tod auf mich warteten. Ich musste da wieder raus und die Suche ging weiter. 

Wie schön, dass ich nicht aufgegeben habe, und gesehen wurde, dass im Selbst „nicht die Sonne leuchtet, auch nicht der Mond noch Stern, noch Blitzstrahl, noch auf Erden entzündetes Feuer. Das Selbst ist das von allem refklektierte Licht. Leuchten des Selbst – und alles leuchtet nach diesem. (Katha-Upanischad)“

Es ist so hell und besteht aus purer Liebe, dass man es kaum ertragen kann. Mit geschlossenen Augen, einem weit geöffneten Herzen und einem ganz leisen Verstand offenbarte es sich mir später erneut. Worüber sollte ich sonst schreiben? Es leuchtet in uns allen. Wir selbst sind dieses liebende Licht. Wovor soll man da noch Angst haben?

Ich wünsche euch ein tolles Wochenende, Monika 


3 Gedanken zu “Der Tod als Lehrer

  1. „Wovor soll man da noch Angst haben?“ Wahrlich schön, dass du nicht aufgegeben hast liebe Monika. Ich danke dir für diesen schönen Beitrag den ich, wie viele andere von dir, noch mehrmals lesen werde. Ich grüße dich herzlich und wünsche dir ein schönes Wochenende. Steph

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  2. Beim Lesen erinnere ich mich an einen Traum, den ich wohl just ad hoc verstehe; ich zeigte mit dem Finger auf den Mond und stellte fest, das ich ihn selbst, wie mit einem Dimmer heller und dunkler werden lassen konnte. Liebgruß 🙂

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