Entwurzelt

Das Interessante an dieser Reise nach Australien war, dass es sowohl eine Reise in die Ferne und zugleich eine Fortsetzung und Vertiefung der Reise nach Innen war. Es fand praktisch eine Verschmelzung von äußeren und inneren Erfahrungen statt. Ich spüre schon jetzt in den ersten Zeilen, dass es nicht einfach sein wird, dieses Phänomen zu beschreiben. Ich kann euch schildern, welche wunderbaren Orte wir besucht und welche aufregenden Dinge wir gesehen und erlebt haben, aber wie soll ich schildern, was sich gleichzeitig in mir veränderte? Hierfür gibt es keine Landkarte und keine Fotografien, an denen ich es festmachen oder zeigen könnte. Es gibt nur die Aufzeichnungen in meinem Tagebuch, und diese liefern gewisse Hinweise für die Veränderung, die ich hier teilweise aufzeigen möchte.

Als wir in Darwin landeten und unseren Camper abholten, richteten wir uns erst einmal ein. Wir mussten unser Gepäck sinnvoll verstauen, damit es beim Wohnen nicht zum Hindernis wird. Außerdem mussten Lebensmittel sowie jede Menge Trinkwasser besorgt werden, denn unser Weg sollte uns zunächst in die Mitte von Australien, also direkt in die Wüste (Outback) führen.

Auf unserer ersten Station, in der Stadt Darwin selbst, fielen mir vor allen Dingen die Aborigines, die Ureinwohner von Australien auf, die ich hier durch das gehäufte Auftreten das erste Mal wirklich wahrnehmen konnte. Ich muss ehrlich sagen, ich war total geschockt. Ich hatte mich vorher nicht informiert und wusste nicht mehr als das, was wir z.B. über bestimmte Sendungen in Arte TV und somit über das Fernsehen aufnehmen. Ich freute mich deswegen auf Menschen zu treffen, die nach meiner Meinung noch in Verbindung standen mit ihrer ureigensten Kultur.

Aber was ich in der Stadt sah, waren Menschen, die torkelnd, ungepflegt und in schmutziger Kleidung unterwegs waren. Wenn sie nicht zu Fuß waren, und zwar meistens ohne Schuhe oder Badelatschen, lagen oder saßen sie auf der Erde. Sie saßen nicht auf der Bank, die neben ihnen vereinsamt im Park herumstand und sie saßen auch nicht auf einer Decke, sie saßen auf der nackten Erde.

Ich konnte, als ich diese Menschen sah, nur erahnen, was mit uns geschieht, wenn man uns aus unserer gewohnten Umgebung und aus unserem normalen Lebensablauf herausreißt. Man hat ihnen nicht nur das Land genommen, sondern auch ihren ganzen Lebensinhalt und somit ihre Würde. Die Regierung hat ihnen Häuser gegeben, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass sie nicht im, sondern vor dem Haus auf der Erde sitzen und nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Sie finden keine Arbeit, weil ihnen der Zugang zu der modernen, auf Konsum gerichteten Welt fehlt, und so fangen sie an zu trinken. Da sie den Alkohol aber überhaupt nicht vertragen, sind sie schon nach einer geringen Menge davon und daher immer high.

Es gibt Projekte, die die Ureinwohner von Australien in die sogenannte „Neue Welt“ integrieren sollen. In den größeren Städten gibt es z.B. Kunstgalerien, die den Raum und die Mittel für Aborigines zur Verfügung stellen, damit diese ihre eigene Kunst fortführen und zu Geld machen können. Die Galerien verkaufen diese Bilder dann für viele Hundert Australische Dollar. Die Bilder werden zusammen mit einem Zertifikat und dem Bild des Künstlers verkauft. Sobald wir jedoch aus so einer Galerie herauskamen und auf die Straße traten, kamen heruntergekommene Aborigines auf uns zu und boten uns ihre Bilder für ein paar Dollar an.

Das wirklich Tragische an dieser Sache ist, dass man sich so hilflos fühlt und nicht weiß, was man machen soll, denn überall sieht man Schilder – auch in den Restaurants -, dass man den Ur-Einwohnern auf keinen Fall Bargeld geben soll, weil sie sich sofort Alkohol davon kaufen würden. Ich dachte, ich würde auf Weisheit und Spirit treffen und sah entwurzelte Wesen mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern.

Natürlich gibt es auch viele Aborigines, die nach mehreren Generationen den Sprung von einem „mit der Natur verbundenem Leben in der Steinzeit“ in das moderne Australien geschafft haben. Nur fielen sie uns nicht so sehr auf, wie die, die uns überall auf der Straße und auf jeder Grünfläche in der Stadt begegneten.

Es gibt staatliche Projekte, in denen die Ureinwohner von Australien ihr eigenes Land zurückerhalten. Diese werden dann als Reservate auch auf der Landkarte gekennzeichnet und dürfen weder von Touristen noch von anderen Australiern betreten werden. Oft arbeiten diese Reservate mit den touristischen Einrichtungen zusammen und bieten den Aborigines so Einkommensmöglichkeiten, wenn dort deren Handarbeiten und Kunstwerke zum Verkauf angeboten werden.

Auch wenn wir in Australien nicht wirklich in Kontakt mit den Ureinwohnern kamen, sondern brav auf den Pfaden der Touristen blieben, haben diese Begegnungen an der Oberfläche sehr viel in mir aufgewühlt. Unweigerlich drängten sich Fragen auf, wie es mit meiner eigenen Kultur und meiner Entwurzelung steht. Hatte ich doch meine Heimat Deutschland verlassen und lebte nun nach der Scheidung ohne Wurzeln, nur mit meinen Kindern in einer ganz anderen Kultur. Wo ist mein Zuhause? Was ist ein Zuhause? Gibt uns ein Zuhause Geborgenheit und Sicherheit? Ist das der Sinn des Lebens?

War es nicht so, dass meine erste Panikattacke genau da auftrat, als ich mir mit 19 Jahren unbewusst die gleichen Fragen stellte? Als ich in meiner ersten eigenen Wohnung lebte und das Gefühl hatte, völlig entwurzelt zu sein? Als ich in einer Ausbildung steckte, die ich mir gar nicht ausgesucht hatte? Keine Ahnung hatte, wer ich war und was ich eigentlich wollte? Als mein Freund mir von der Arbeit erzählte (er machte die Ausbildung zum Krankenpfleger), von der Frau, die immer Kopfschmerzen hatte und bei der man feststellte, dass ihre ganzes Gehirn mit Tumoren durchsetzt war? War es nicht das plötzliche Erkennen, dass das Leben auf einen Schlag vorbei sein kann, das die Angst vor dem Tod und die Frage nach dem Sinn des Lebens in mir auslöste? Ich spürte das allererste Mal, dass ich überhaupt keinen Halt und kein Vertrauen in diese Welt hatte und fiel in eine Todesangst, die mich 30 Jahre begleiten sollte.

Diese Fragen, die gleich am Anfang der Australienreise auftauchten, sollten zum Teil in der Wüste beantwortet werden, aber hierfür musste es erst mit dem Camper noch weitergehen ins Zentrum von Australien zum Uluru/Ayers Rock, der für die australischen Ureinwohner eine große spirituelle Bedeutung hat und für diese daher heilig ist.

Auf dieser Route vom Norden ins Herz von Australien besuchten wir natürlich alle umliegenden Nationalparks, z.B. den Litchfield National Park mit seinen wunderschönen Wasserfällen und Termitenbauten. Gleich am Eingang des Parks informierten uns die Mitarbeiter, dass es besser wäre, nicht wild zu campen, da die Polizei in diesem Gebiet nach einem flüchtigen Mörder sucht. Ich dachte natürlich gleich wieder, das passt. Wieder ein Grund mehr, Angst zu haben J. Tatsächlich haben wir später einige Polizeifahrzeuge gesehen.

Aber Gänsehaut bekam ich auch, als ich Spinnenfäden sah, die so dick wie Garne waren und andere Camper mir später erzählten, dass sie auch die dazugehörigen Spinnen gesehen haben, die so groß wie ihre Hand waren. Auch als meine Kleine mit meiner Freundin am Wasserfall im Wange Plunge Pool schwamm, hatte ich etwas Muffensausen, denn wenn dort im Frühjahr die Flut herrscht, schwimmen da auch schon mal Salzwasserkrokodile drin. Wer garantiert mir denn, dass es sich nicht noch ein Krokodil nach der Flut dort gemütlich gemacht hat?

Wurde ich durch meine plötzliche Arbeits- und Wohnungslosigkeit sowieso schon aus meinem stets sehr durchstrukturierten und streng disziplinierten Alltag herausgerissen, gab mir Yoga eine Richtung, nämlich die nach Innen. Aber ich hatte keine Ahnung, wo mich das Leben nun langfristig hintreiben würde.

In Australien wurde es nun noch extremer, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mich am nächsten Tag oder gar im nächsten Augenblick erwartete. Welche Landschaften, Menschen oder Tiere uns begegnen sollten. Kakadus, Kängurus, Krokodile oder Fledermäuse so groß wie Raubvögel. Was ich vorher auf der Yoga-Matte übte, nämlich ganz im Moment zu sein, das wurde in Australien auf ganz natürliche Art und Weise in jedem Augenblick umgesetzt, ohne dass ich hierfür etwas tun musste. Diese Präsenz im Augenblick führte zu einer unglaublichen Lebendigkeit in mir.

Natürlich steht da auch in meinem Tagebuch, dass ich nicht einschlafen konnte, weil ich an H. dachte, und einmal erhielt ich sogar eine Nachricht von ihm, so dass ich über Stunden in Tränen ausbrach.

Aber sobald ich am nächsten Morgen wieder die Augen öffnete, zwang mich der unbeschreiblich schöne Sonnenaufgang in Australien, der alles um uns herum wieder lebendig machte dazu, wieder ganz im Moment anzukommen.

So verlor das, was einmal war, und das, was sein könnte, langsam immer mehr an Bedeutung. Der unruhig umherschwirrende Geist mit seinen vielen Gedanken und der Körper wurden durch den Fokus auf das wunderschöne Hier und Jetzt immer mehr vereint.

Es war so befriedigend, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu haben, für so wesentliche Dinge, wie: Wo werden wir übernachten? Was haben wir noch zu essen? Was können wir davon zubereiten? Müssen wir Wäsche waschen oder Einkaufen gehen? Das sind Fragen, die sich mir zuvor, als ich noch arbeitete, immer nur nebenbei stellten und nebenbei erledigt wurden. Ich hatte früher keine Zeit mich um gute Lebensmittel zu kümmern oder mit dem Kochen zu beschäftigen. Meine ganze Energie wurde in der Arbeit oder im Verkehr aufgesogen, so dass ich abends nur noch die Füße hochlegen konnte. Es war ja auch immer viel wichtiger, IRGENDWER zu sein und etwas zu HABEN, als wirklich zu SEIN.

Und hier in Australien, da war ich einfach. Ich war ein Teil von dem, was um mich herum alles auftauchte. Ein Teil der Natur und somit ein Teil dieses Wunders und es schien so, als würde ich nun nicht nur mit der Yoga-Matte, sondern mit der ganzen Natur um mich herum Wurzeln fassen. Ich hatte eine leise Ahnung davon, was ich mit den herumirrenden Aborigines gemeinsam hatte.

Ich wünsche euch ein schönes Wochenende, Monika


2 Gedanken zu “Entwurzelt

  1. Was für ein schöner Bericht. ❤ Ich fühlte mich gleich an ein Buch erinnert,welches ich mal las und das mich lange nicht los lies. von Marlo Morgan. Es muss unglaublich sein, sich diesem Land mit seinen Bewohnern für kurze Zeit so voller Bewunderung anzunähern wie du es getan hast. Die Lebendigekeit die daraus entsteht kann ich fast fühlen. Danke Monika. 🙂

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    1. Vielen Dank liebe Steph für Deine Zeilen. Ich wünschte, alle Menschen könnten sich auf eine längere Abenteuerreise machen. Wir lernen so viel über uns und die Welt. Das verändert uns sehr. Hast Du auch schon mal eine längere Reise machen können? Liebe Grüße, Monika

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