Dankbarkeit und Demut

Wer mein Buch gelesen hat, weiß, was jetzt kommt, und ich möchte es hier nur kurz andeuten, denn es geht um Yoga und nicht um mich.

Nach meinem überstürzten Auszug stelle sich die Frage: Wohin? Hatte ich doch die eigenen vier Wände für einen Narzissten aufgegeben. Hatte ich doch keinen Job mehr und konnte mir keine neue Wohnung mieten. Hatte ich keine Familie, bei der ich mich mal fallenlassen konnte, da ich im Ausland lebte. Hatte ich eine noch minderjährige Tochter, um die ich mich kümmern musste.

Ich war wieder an einem Punkt in meinem Leben – und sicher hattet ihr irgendwann alle einmal so eine Zeit – wo mir die Säulen, die alles trugen, nach und nach wegbrachen. Und doch kam es nicht zu Verzweiflung oder zum Zusammenbruch. Tatsächlich traten in dieser schweren Zeit Dankbarkeit und Demut in mein Leben. Wie konnte das geschehen? Ist das kein Widerspruch?

Da ich keine religiöse Erziehung hatte und auch kein Gebet kannte, waren mir diese zwei Begriffe völlig fremd. Wem oder was sollte ich wofür danken oder wem sollte ich mich zu Füßen werfen? Es gab für mich nie eine höhere Instanz. Ich schrieb es dem Zufall zu, wenn etwas gut oder schlecht ausging.

Wir konnten nirgendwo hin außer zu meiner großen Tochter, die in der Wohnung meiner verstorbenen Schwiegereltern lebte. Und so standen wir, jeder mit einem Koffer in der Hand, noch am gleichen Tag vor ihrer Tür.

Dieser Schritt war nicht leicht für mich. Es tauchten Gedanken auf, dass dies einer Niederlage gleichkam. Ein Versagen als Verantwortliche. Eine Mutter, die bei Ihrer Tochter anklopft und um Asyl bittet. Dabei hatte ich sie doch zuvor wegen eines Narzissten verlassen. Und dann noch in der Wohnung der Schwiegereltern, wo ich mich doch von deren Sohn getrennt hatte. Schuldgefühle klopften an und suchten Zutritt.

Auf der anderen Seite waren wir wieder zu dritt, und das fühlte sich auch sehr schön an. Wir hatten eine sehr schöne intensive Zeit miteinander. Überhaupt bekam der Begriff Zeit eine ganz neue Bedeutung für mich, denn nun hatte ich Zeit ohne Ende. Zeit für Yoga/Meditation. Üben und üben und mich ganz auf die innere Reise und Reife konzentrieren. Was für ein Geschenk. Da liegt der Koffer mit den paar Sachen. Hier die Matratze. Und dort meine Yogamatte. Auf dem Konto gibt es nur noch wenige Rücklagen, aber da ich hier kaum Kosten hatte, konnte ich erst einmal entspannen.

Ohne Yoga wäre ich sicher in ein großes Loch und womöglich in alte Ängste – die mir ja sehr vertraut waren – und Depressionen gefallen. Ich hatte noch nie soviel Zeit nur für mich, war bis dahin noch nie so alleine mit mir

Wann waren wir je frei? Waren wir frei, als wir Kinder waren? Waren wir frei, als wir zur Schule oder in eine Ausbildung gingen? Waren wir frei, als wir uns auf Beziehungen einließen oder einen Beruf auswählten und ausübten?

Ich hatte nach meiner Ausbildung zur Yogalahrerin selbst noch immer keinen Yogalehrer gefunden. Ich hatte nur die „Yoga-Sutras des Patanjali”, und ich versuchte, nicht nur zu lesen und zu verstehen, sondern auch anzuwenden, das heißt, zu üben. Auf das regelmäßige und disziplinierte Üben weisen zwei Kapitel des Buches besonders hin:

Kapitel 1, Vers 14, dass die Übung ein festes Fundament erhält, wenn sie lange Zeit, ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe ausgeführt wird. 

Kapitel 2, Vers 43, dass durch Selbstdisziplin der Trübsinn aufgelöst wird, Körper und Sinne eine übernatürliche Kraft erhalten, bzw. (eine andere Auslegung) durchdie selbsterforschende Vertiefung in die überlieferte Lehre der Mensch zum Absoluten in sich geführt wird.

Es erschien mir nur logisch, dass die Sutras auf das regelmäßige Üben hinwiesen. Auch den Führerschein oder einen Abschluß im Beruf erhalten wir nicht, wenn wir nicht üben. Man muss bei einer Sache bleiben, wenn man sie verstehen möchte.

Ich hatte bis dahin noch keine einzige spirituelle Erfahrung gemacht. Ich hatte nicht mal gewusst, dass es so etwas gibt. Nie hatte ich mich damit beschäftigt, obwohl in den Yoga-Sutras des Patanjali auf einige dieser Dinge eingegangen wird. Es war ganz klar, dass es für mich hier erst einmal um das Üben und das Aufbauen von Vertrauen ging.

Es war nicht so leicht, wie es sich hier anhört. Auch beim Üben war der Schmerz da über eine verlorene Liebe und die große Enttäuschung über Menschen, denen ich vertraute, und es liefen die Tränen auch auf der Matte. Ich will es nicht verleugnen, ich fühlte mich auch als Versagerin und hatte Schuldgefühle meinen Kindern gegenüber. Aber ich verdrängte das alles nicht, sondern richtete meinen Fokus auf alles, was auftauchte. Ich atmete in den Schmerz und in meine Zukunftsängste hinein und nahm alles an. So konnten mich diese Gedanken und Empfindungen nicht beherrschen und kontrollieren. Ich wusste, wer den Atem kontrolliert, kontrolliert den Geist.

Durch diese Konzentration auf der Matte konnte ich auch erkennen, dass es noch andere Dinge gab, als den verlorenen Job oder den Schmerz einer unglücklichen Liebe. Gegebenheiten, die ich im geschäftigen Alltag stets übersehen hatte. Ich sah nie wirklich was hier war, sondern war immer im Stress und mit meinen Gedanken irgendwo in der Zukunft. Das was schon ist, wurde überdeckt von meinen Ängsten und Bedürfnissen und die Erwartungen an die Welt und andere Menschen.

Als ich nun nicht mehr von der Arbeit oder anderen Menschen eingenommen wurde und es eine Fokussierung auf das Hier und Jetzt gab, tat sich plötzlich ein Raum auf und mir wurde bewusst, dass ich gesund bin, dass meine Kinder mit mir sind und auch, dass sie gesund und zufrieden sind. Wir haben ein Dach über dem Kopf und wir haben etwas zu essen. Wie konnte ich all das Wunderbare jeden Tag übersehen?!

Und dann die ganzen „Kleinigkeiten”, denen ich über all die Jahre nie einen Blick gegönnt habe, weil ich immer so schwer mit so viel „wichtigeren Dingen” beschäftigt war. Nun gab es Zeit für die liebevolle Betrachtung einer Blume, das Beobachten von spielenden Kindern auf der Wiese. Das Staunen über Vögel und Flugzeuge, die über mich hinwegzogen und mir zuriefen „Es lebe die Freiheit!” Und als ich mich nicht mehr auf das arme ICH und MICH konzentrierte, waren sie plötzlich da, die Dankbarkeit und die Demut.

Was für ein Glück wir doch hatten. Tatsächlich ging es uns doch gerade hier und jetzt gut. Hatten wir nicht schon viel Schlimmeres, wie eine Scheidung und Auflösung der Familie, ein starkes Erdbeben und Wirtschaftskrisen überstanden? Und auf einmal nahm der Schmerz nicht mehr so viel Platz ein wie zuvor. Denn hier war nun Freude über dieses Wunder Leben, die mir vorher völlig abhanden gekommen war.

Nach jeder Yoga-/Meditationsübung blieb ich noch einen Augenblick sitzen und bedankte mich. Ich bedankte mich erst für das eine und dann für das andere und dann stets für alles. Ich hatte keine Ahnung, an wen ich diesen Dank richtete, aber ich sprach ihn aus und es fühlte sich gut an. Vertrauen wuchs Tag für Tag, und zart spürte ich, dass sich Demut vor diesem Leben auftat.

Ich fing an zu begreifen, dass wir entweder an all den scheinbar verlorenen Dingen festhalten und klagen können oder sie ziehen lassen und allem anderen, was noch erscheinen will, damit Raum geben. Dadurch entstand in mir eine Leichtigkeit und Offenheit, wie ich sie zuvor noch nie erlebte hatte und „meine” Welt wurde plötzlich immer größer. Auf einmal gab es soviel Platz für Neues, und so etwas wie Neugierde und Abenteuerlust stiegen in mir auf.

So konnte es auch geschehen, dass mich ein lieber Freund in Istanbul besuchte, der ebenfalls mit einer Trennung zu kämpfen hatte. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen und es war wunderbar, dass wir unseren Kummer für kurze Zeit teilen konnten. Auf einmal wurde meine Welt noch weiter. Da gab es nun neben dem Schmerz, der Enttäuschung, dem Verlust der Arbeit, den Schuldgefühlen und Ängsten gleichzeitig ein Duft von Freiheit in der Luft, Freude über all das, was stets übersehen wurde, und nun auch noch soviel Aufmerksamkeit und schöne, fröhliche, unbeschwerte Tage.

Noch vor wenigen Tagen nicht vorstellbare neue Möglichkeiten wurden mir geboten und auch eine Tür nach Deutschland tat sich völlig unerwartet auf. Ich hätte mich nur fallen lassen brauchen. Alles wurde für mich getan. Aber ich war noch nicht soweit für eine neue Perspektive in einer anderen Beziehung.

Ich hatte mich für Yoga entschieden und nicht für die nächste sichere Flucht vor mir selbst und deshalb meldete ich mich für das nächste Retreat an, indem sich offenbaren sollte, was mir die Zukunft bringen wird.

Ist das nicht erstaunlich? Und ist es nicht schade, wenn wir diese Freiheit gar nicht wahrnehmen, weil wir immerzu nur mit „unserem Leiden” beschäftigt sind? Deshalb stehen Dankbarkeit und Demut nicht im Widerspruch zu Lebenskrisen.

Danke an Patanjali, der vor so langer Zeit am anderen Ende der Welt diese weisen Worte schrieb, die mich in dieser schweren Zeit begleiteten und mich nach innen führten. Lebenskrisen wollen, dass wir verstehen und wachsen. Sie sind wie ein Hinweisschild, auf dem steht, hier geht‘s in die Freiheit. Und das ich dieses Schild sehen und lesen konnte, das habe ich dem Yoga zu verdanken.

Und wart Ihr mal frei?


5 Gedanken zu “Dankbarkeit und Demut

  1. Dankbarkeit und Demut empfinden zu dürfen ist eines der schönsten Geschenke, die Gott einem Menschen machen kann …..wenn nicht sogar das schönste überhaupt.
    Doch man kann es sich nicht erarbeiten – weil es eben „ein Gottesgeschenk“ ist.
    Einen schönen Abend Dir, Monika
    und beste Grüsse aus Wien
    D.B.

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe D.B., ich weiß nicht, ob ich Dir da zustimmen kann. So wie wir heute leben, sind unsere Bedürfnisse stets auf das Äußere gerichtet. Wir erwarten und hoffen und wollen. Meistens immer mehr. Und stets das, was uns gefällt. Das andere wollen wir natürlich nicht. Von anderen, auch von uns selbst erwarten wir so viel. Selbst von „Gott“ erwarten wir. Aber davon hatte ich keine Ahnung. „Gott“ war mir fremd. Ich hatte kein Bild. Keine Vorstellung.
      Aber als ich die Sinne zurückzog und sie nach innen richtete – und das war nach meinem Empfinden sehr harte Arbeit, immer zurück auf die Matte und jeden Tag immer wieder durchgehen durch den Schmerz und die Angst und nie verdrängen oder beschuldigen, sondern annehmen und atmen und vertrauen – da wuchs mit dem Eifer und dem Vertrauen auch ganz vorsichtig die Dankbarkeit und die Demut. Es war ein Wechselspiel. Ein Geben und ein Nehmen. So scheint es im Leben immer zu sein. „Gott“ scheint immer da zu sein und will immer schenken aber wer geht denn wirklich nach innen und fängt an zu suchen? Ich habe leider bisher noch niemanden persönlich getroffen. Ich wünschte, ich könnte mit jemandem darüber sprechen. Deshalb schreibe ich hier. Es ist mir ein Bedürfnis. Es gibt nichts, was mir wichtiger wäre. Liebe Grüße nach Wien, Monika

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