Tagebuch 14.04.2010
Heute Morgen bin ich mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich mich schon sehr weit von M. entfernt habe. Dabei bin ich doch erst ein paar Tage hier.
Es fallen mir in der Abgeschiedenheit Parallelen auf zu meiner Ehe. Das ewige Reden. Die Enttäuschung, dass nichts ankommt. Der eigene Rückzug. Und die Erkenntnis, dass irgendwann der Punkt kommen wird, wo es kein Zurück mehr gibt.
Ich habe von meiner Freundin in Australien geträumt, die ich aufgrund meiner Flugangst noch nie besuchen konnte. Sie taucht nun schon das zweite Mal in meinen Träumen auf. An Details kann ich mich aber nicht mehr erinnern.
Die Yogaübungen am Vormittag waren wieder sehr anstrengend. (Hier möchte ich einfügen, dass beim Acro-Yoga sehr viel Wert auf Muskeltraining gelegt wird, da Kraft und ein stabiler Körper für die akrobatischen Übungen gebraucht werden. Da ich jedoch von Yoga überhaupt keine Ahnung hatte, ging ich davon aus, dass das normale Yoga-Sequenzen sind.)
Auch während der Übungen bin ich mit meinen Gedanken schon wieder zu Hause. Das ärgert mich. Außerdem will E. (eine liebe Freundin aus Deutschland) mich besuchen kommen und ich weiß nicht, ob ich ihr Glück, das ich ihr sehr gönne, auch selbst ertragen kann. Ich denke schon darüber nach, was ich alles zu erledigen habe und hoffe, dass ich genug Zeit für sie aufbringen kann. Vielleicht können wir es uns auf dem kleinen Balkon gemütlich machen. Dieser Balkon ist ja nun mein Garten. In all den letzten Jahren ist mein Garten immer kleiner geworden und mit ihm schrumpft auch meine Seele.
Mittags haben wir zusammen gekocht und anschließend sind wir wieder zur Burg hinaufgelaufen, um dort zusammen zu fliegen.
Am Abend haben wir unsere kleinen Mitbringsel auf einen Haufen gelegt und ein Spiel gespielt. Nachdem jeder eine Zahl gezogen hatte, durfte die Nummer 1 anfangen, sich eins der verpackten Geschenke auszusuchen, musste es dann öffnen und vor sich hinlegen. Die Nummer 2 durfte dann entscheiden, ob sie ein neues Paket öffnen oder das geöffnete Geschenk von Nummer 1 nehmen möchte. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, denn wenn man sieht, dass sich eine Person sehr über das geöffnete Paket freut, muss man schon ein starkes Ego haben, um es ihr dann wieder wegzunehmen.
Der Abschied kam und die Hoffnungen wurden ausgesprochen, dass man sich irgendwann bei einem anderen Retreat oder gar in Istanbul wieder sieht.
Noch vor dem Zubettgehen habe ich meine kleinen Geschenke für Julia und unsere Gastgeberin Gisa an diese weitergegeben. Daraufhin hat mir Gisa ein Buch geschenkt. Es heißt: “Warum ich”.
Dieses Buch wird später in meinem Tagebuch wieder auftauchen. Hier möchte ich nur erwähnen, dass mir irgendwann aufgefallen ist, dass ich die wichtigsten Bücher in meinem Leben entweder geschenkt bekommen oder völlig unbewusst ausgesucht habe. Meistens hatten die Überbringer dieser Bücher keine Ahnung, wo ich im Leben gerade stand und welche Bücher für mich gut sind. Wenn ich das mal zurückverfolge, dann sieht es so aus, als wollte das Leben, dass ich diese Bücher lese. Eins von vielen Wundern, die einem auffallen, wenn man sich öffnet und aufmerksamer wird.
Tagebuch 15.04.2010
Der Kurs war schön. Ich habe viel über Yoga und über die Menschen gelernt, die Yoga machen. Es war hart und ging körperlich oft an meine Grenzen (aber nicht nur an meine J). Die Fliegerei hat mir viel Mut gemacht. Die Unterstützung und das Lob der anderen haben mir sehr geholfen. Mir ist auch klar geworden, dass hier jeder von uns sein Päckchen zu tragen hatte. Ich möchte mit Yoga gerne weitermachen und es in meinen Alltag einbringen. Hierfür muss ich einen Weg finden. Ich weiß nun, dass ich mehr Zeit für mich brauche.
Auf dem Schiff denke ich an das Mantra, das wir gesungen hatten und schreibe es als Abschluss dieser Reise in mein Tagebuch :
Om Bhur Bhuvah Swaha,
Tat Savitur Varenyam
Bhargo Devasya Dhimahi,
Dhiyo Yo Nah Prachodayat
Es ist das Gayatri Mantra. Wir hatten dieses und auch andere Mantren im Retreat ab und zu am Lagerfeuer gesungen. Ich musste immer vom Blatt ablesen und hatte keine Ahnung, was es bedeutete. Kurz wurde der Inhalt erklärt, aber ich konnte nichts mit den Worten anfangen. Außerdem war es mir, als logisch denkender und jeder Spiritualität ferne Mensch auch peinlich und unangenehm, irgendwelche Mantren zu singen und mich dann dieser Stimmung hinzugeben.
Aber das Mantra durchbrach die Grenzen des Verstandes und der Scheu und ging direkt in mein Herz. Ich denke, die Worte Liebe und Demut beschreiben das Gefühl am besten, welches dieses Mantra in mir auslöste.
Wie war das möglich? Was ist in den letzten Tagen mit mir passiert?
Ich kam zum Retreat als körperliches Wrack. Ich war mental völlig ausgelaugt und einem Burnout ziemlich nahe. Emotional befand ich mich ebenfalls auf einer Achterbahn.
In dieser einen Woche arbeiteten wir an den vier Elementen, die sich einander ergänzen und auch erzeugen. In Ihrem Zusammenspiel entstand wieder Balance in mir, und es trat Harmonie in Körper und Geist ein.
Durch die Arbeit mit und am Körper durfte ich diesen wieder spüren und mich erden. Stabilität, Geborgenheit und Vertrauen wurden über die Körperarbeit und den Kontakt mit den anderen Menschen angesprochen und erfahren. ERDE
Alles in und an mir durfte wieder fließen. Blut und Wasser zirkulierten und ich fing wieder an, mich in mir selbst wohlzufühlen. WASSER
Ich musste körperliche Energie aufwenden und es entstand Hitze in mir. Körperspannung wurde aufgebaut und Lebensenergie kam in Bewegung. Mein Nervensystem wurde gestärkt. Meine Intuition wurde geweckt. FEUER
Ich atme nach langer Zeit wieder durch. Der Blick ging nach Innen. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Atem und dem Dankapparat. Der Geist beruhigt sich, wenn der Atem ruhig fließt. LUFT
Ich war nach Jahren das erste Mal wieder einigermaßen im Einklang mit mir. Der Körper fühlte sich so weit, geschmeidig und elastisch an. Die Poren schienen alle geöffnet, sowie meine Sinne und mein Herz.
Und so konnte das Mantra, nicht mit seinen Worten, die ich ja nicht verstand, aber mit all seiner Kraft, die man ihm nachsagt, bis in mein Innerstes vordringen und mich dort so innig berühren, dass es bis heute Tränen der Freude und Liebe auslöst.
Eine gute Übersetzung des Mantras zu finden ist nicht so leicht, da der Text sehr vielschichtig ist. Dies ist eine von vielen Übersetzungen:
Lasst uns über das Om meditieren, jener Urlaut Gottes, aus dem die drei Bereiche,
das Materiell-Irdische, das Fein-Ätherische und das Feinste-Himmlische hervorgegangen sind.
Lasst uns das höchste, unbeschreibbare, göttliche Sein verehren, die schöpferische, lebensspendende Kraft, die sich in der Sonne kundtut.
Lasst uns über das strahlende Licht Gottes meditieren, welches alles Dunkel, alle Unwissenheit, alle Untugenden vernichtet.
Möge dieses Licht unseren Geist erleuchten.
Von allen Mantren soll das Gayatri Mantra das höchste und machtvollste sein. Für diejenigen, die es nicht kennen und es gerne mal hören möchten, hier ein Link für eine sehr schöne und schlichte Version des Mantras:
https://www.youtube.com/watch?v=L-gjkzQRau0
Im Prinzip spielt es keine Rolle, welche Worte man in so einem Augenblick der völligen Öffnung und Hingabe hört. Es können deutsche, häbräische, arabische oder Worte aus dem Sanskrit oder in Pali sein. Wichtig ist die Botschaft, die hinter den Worten steht und dass sie uns in diesem Augenblick erreicht.
Was genau in einem passiert, kann man vielleicht nicht einmal erklären. Aber rückblickend versteht man, dass so etwas wie ein Same in einem gesetzt wurde.
Nach außen hin schien das Leben wie immer weiterzugehen, aber tatsächlich sollte ich ab dieser ersten Begegnung mit Yoga nie wieder den damals noch recht zarten und undefinierbaren Kontakt zu mir selbst verlieren. Und damit gab es eine neue Perspektive, nämlich den Blick nach Innen. Was für ein Geschenk. Und das möchte ich gerne weiter mit euch teilen.