Erste Begegnung mit Yoga

Tagebuch 08.04.2010

Ayvalik. Ich sehe einen Teil der Burg und die schöne Bucht. Das Hinterland ist flach und mit Olivenbäumen bestückt.

Die Fähre von Ayvalik nach Mytilene auf Lesbos ist sehr klein und eng. Mit mir sind hauptsächlich noch Griechen auf dem Boot. Ich musste erstaunt feststellen, dass sie noch viel lauter sind als die Türken und keine Berührungsängste haben. Sie reden alle gleichzeitig und durcheinander, und am lautesten sind die Frauen. Als hätte man sie zur gleichen Zeit aufgezogen. Sie haben Tüten dabei mit ihren Einkäufen vom Bazar in Ayvalik. Sobald das Schiff ablegt, packen sie alles vor mir aus und zeigen sich gegenseitig die Jacken, Hosen und Kleider, die sie mit ihren Euros günstig eingekauft haben. Dann werden die Lebensmittel ausgepackt und ich denke, jetzt wird es ruhiger, wenn sie essen. Da habe ich mich aber geirrt, denn nun reden sie, während sie gleichzeitig essen. Das ist bewundernswert denke ich und versuche zu entspannen.

Da wir sehr dicht aufeinander hocken, bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Mitmenschen zu beobachten. Zum Lesen ist es zu laut.

 Auch nach dem Essen werden sie nicht ruhiger. Sie laufen nun ständig hin und her. Sie sind so nervös wie die Türken. Jetzt werden Nüsse, Gurken, Kuchen und Brot ausgepackt. Das Picknick geht weiter. Hoffentlich gibt es eine Toilette auf diesem Schiff? Mir gegenüber sitzt ein junges Paar. Sie sind sehr nett. Sie hören Musik. Gott sei Dank über Kopfhörer.

Ich schaue mir die Frauen genauer an. Von der Größe und Ausstrahlung her dominieren sie eindeutig ihre Männer. Manche von ihnen haben sogar einen Oberlippenbart. Eine sieht so aus, als hätte sie einen Hund auf dem Kopf, da ihr kräftiges und dunkles Haar weit nach oben absteht. Die Männer haben alle ein Tespih (Gebetskette) in der Hand.

Ein Taxi bringt mich vom Hafen zur Unterkunft. Die Fahrt dauert eine Stunde. Leider ist es schon dunkel, so dass ich kaum etwas erkennen kann. Der Fahrer sagt, er hat die Insel noch nie verlassen. Hier gibt es alles, was er braucht. Mir fällt auf, dass an vielen Stellen neben der Straße kleine Gedenkstätten für die Verkehrstoten errichtet wurden.

Um 21.30 Uhr komme ich an. Ich werde sehr herzlich von der Eigentümerin empfangen, die sich vor Jahren aus Deutschland mit ihrer Familie auf dieser Insel niedergelassen hat. Sie wärmt mir eine Linsensuppe auf und dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Die meisten anderen sind schon da und haben sich versammelt. Ich begrüße sie und meine junge Yogalehrerin Julia. Sie erklärt kurz das Programm und weist darauf hin, dass wir den ersten Yoga-Tag schweigend abhalten werden. Auch an diesem Abend gibt es keine Gespräche, nur eine Meditation draußen am offenen Feuer, bevor man sich verabschiedet und sich zurückzieht.

Nun sitze ich auf einem fremden Bett. Alles riecht fremd. Ich verdrücke noch zwei Schokoladen-Ostereier gefüllt mit Eierlikör, die ich mir mitgebracht habe. Das brauche ich jetzt. Morgen früh um 8.00 Uhr geht es los. Jeden Tag von 8-11 Uhr und dann wieder von 15.00 Uhr bis zum Abend.

Tagebuch 09.04.2010

Ich habe gut geschlafen. Da ich im Dunkeln angekommen bin, war ich neugierig auf das, was mich am Morgen erwartet. Der Ausblick aus meinem Fenster ist wunderschön. Grüne Hügel und das Meer. Ich trinke den ersten Kaffee heute und dann ab unter die Dusche. Die Dusche war kalt.

Eine Stunde Atemübungen sind um. In einer entspannten Pose lagen wir auf dem Boden. Kissen lagen unter dem oberen Rücken, so dass der Brustkorb weit nach oben geöffnet wurde. Die Arme lagen entspannt und weit ausgestreckt neben dem Körper. Ich folgte den Anweisungen unserer Lehrerin und atmete vom Bauch über den Brustkorb bis in die Lungenspitzen ein. Plötzlich bemerke ich, wie es an den Seiten meines Brustkorbes ganz warm wird. Als wenn durch diese tiefe Atmung das erste Mal bis in meine Lungenspitzen Sauerstoff gekommen wäre.

Anschließend wurde meditiert, und wir sollten die positiv auftauchenden Gedanken aufschreiben. Fließendes Wasser und ein Wasserfall kamen mir in den Sinn. Auch musste ich an die Wärme denken, die in meiner Brust zu spüren war. Vögel zwitscherten draußen vor den Fenstern, und Begriffe wie Ruhe, Frieden und Natur kamen mir in den Sinn. Auch das Duschen unter einem warmen Wasserstrahl (wahrscheinlich weil ich heute Morgen kalt duschen musste).

Nach einer kurzen Pause ging es weiter mit anderthalb Stunden Yoga. Die Übungen wurden langsam durchgeführt, aber es war für mich sehr anstrengend. Manchmal hatte ich Angst, dass mir schwindlig oder schlecht werden könnte. Ist aber nichts passiert.

Nach den Übungen bin ich hungrig. Wir laufen zum Büffet. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dies alles gemeinsam mit den anderen Teilnehmern und doch schweigend zu tun. Es gibt kurze Blickkontakte und ab und zu ein freundliches Lächeln. Ansonsten sucht sich jeder mit seinem gut gefüllten Teller ein schönes einsames Plätzchen in der Natur, um in Ruhe sein Frühstück zu genießen. Das ist ganz in meinem Sinne und könnte von mir aus die ganze Woche so weitergehen.   

Ich sitze mit meinem Nach-dem-Frühstück-Kaffee auf der Terrasse und schaue auf die Landschaft um mich herum. Die Sonne scheint. Vögel singen. Die Bäume blühen in voller Pracht und werden von dicken Hummeln und Käfern umkreist. Auf der rechten Seite erstrecken sich grüne Hügel, auf denen vereinzelt Häuser kleben, und weit oben thront eine alte Burg. Zur linken Seite zeigt sich das Meer. Irgendwo in der Ferne schreit ein Tier. Ich weiß nicht, was es ist, aber es stört mich nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Geräusch nicht von einem Menschen verursacht wird.

Ich erfahre, dass noch zwei Personen fehlen und wir insgesamt 9 Teilnehmer sein werden. Außer einer Griechin sind wir alle Deutsche, wobei ich die einzige bin, die im Ausland lebt. Auch sind, außer der Griechin, alle jünger als ich. Wenn ich mit Deutschen zusammen bin, dann spüre ich immer, dass mich der lange Auslandsaufenthalt sehr verändert hat und ich mich nicht mehr typisch deutsch fühle. Obwohl wir gar nicht sprechen, scheint es so, als gäbe es Unsicherheit, Rechthaberei, Intoleranz, Arroganz  und ein In-sich-Gefangensein.

Heute weiß ich, dass das, was ich dort gespürt habe, nichts mit den anderen Menschen, sondern nur etwas mit mir zu tun hatte.

Bei den Atemübungen ist mir aufgefallen, dass mein Atem jetzt tatsächlich tiefer geht. Manchmal kommt er bis an meine Schmerzen heran, und Traurigkeit taucht auf. Sobald mich unsere Lehrerin berührt, um die Position zu korrigieren, steigen Tränen auf. Als sie mich beim tiefen und langen Ausatmen therapeutisch begleitet und mit ihren Händen die letzte Luft aus meinen Lungen schiebt, wird es dunkel um mich und Trauer und Verzweiflung packen mich. So dunkel. So tief.

Ich denke in der Pause darüber nach, warum ich Panikattacken habe. Ist es nur genetisch (meine Mutter hat sie auch) oder liegt es auch an der Erziehung und den Lebensumständen?

Habe ich ein Helfersyndrom? Warum kann ich nicht Nein sagen? Will ich mich unentbehrlich und damit geliebt fühlen? Habe ich Angst davor, andere zu verletzen, wenn ich Nein sage?

Immer Ja sagen, immer lieb sein. Auch in meiner Ehe. Und auch innerhalb der türkischen Familienstruktur. Dann liebte man mich. Bis ich begriff, dass das eine einseitige Angelegenheit war. Niemand war daran interessiert, mich zu verstehen. Ich sollte nur funktionieren. Perfekt sein. Die Super-Ja-Sage-Frau, Super-Ehefrau, Super-Mutter, Super-Schwiegertochter und Super-Deutsche in der Türkei. Ich gab mir solche Mühe. Alle sollten doch denken, wie gut ich alles im Griff habe.

Nun holpern auch mal die ersten Nein aus meinem Mund, und viele Menschen um mich herum verunsichert das. Auf einmal ist bei Freunden, Kollegen und Bekannten Widerstand da. Sie machen plötzlich Druck, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie gehen sogar soweit, zu erpressen, zu schreien und leider auch körperliche Gewalt anzuwenden. Auf einmal lebe ich in einer völlig anderen Welt. Die Harmonie ist hin.

Habe ich immer Ja gesagt, obwohl ich eigentlich ein Nein sagen wollte, fand ich mich anschließend logischerweise in Situationen wieder, in denen ich gar nicht sein wollte. Dadurch entstand Frust und dann Aggression, vor allen Dingen dann, wenn ich dachte, der andere müsste doch sehen und verstehen, dass ich das gar nicht will und mir da raushelfen oder mindestens einen Schritt entgegenkommen.

Das hat natürlich niemand getan, warum auch? Es ging allen anderen ja gut damit, wenn jemand da war, der wegen der Harmonie immer zu allem bereit war.

Diese Enttäuschung und Wut die dann bei mir entstanden, richtete ich erst nach innen, und als da in mir kein Platz mehr war, später auch nach außen. Gegen Mobiliar und Glasscheiben, gegen Fotos, beim schnellen Autofahren in der Hoffnung, dabei draufzugehen. Und als ich meine Aggression selbst bei meinen Kindern nicht kontrollieren konnte, war für mich eine Grenze erreicht und klar, ich musste aus dieser Situation heraus.

Bin ich Perfektionistin? Ja, alles musste immer perfekt sein. Alles musste sauber sein, rechtzeitig und gut sein. Ich bin froh, dass ich davon schon einiges loslassen konnte. Die Bude kann auch mal unordentlich sein und ich habe aufgehört, anderen alles hinterher zu räumen.

Es stresst mich jedoch, dass mein Partner jetzt Druck ausübt, weil er einen Putzfimmel hat. Wenn ich nach 10 oder 12 Stunden nach Hause komme, kann ich ganz entspannt alles liegen lassen. Ich will mich nicht dafür rechtfertigen müssen.

Die Yoga-Übungen tun mir gut und ich habe keine Probleme damit. Nur bei Posen, wo der Kopf nach unten hängt, werde ich unsicher. Ich denke, das ganze Blut läuft in mein Gehirn, und bei dieser Vorstellung meldet sich die Angst.

Nachmittags sollten wir für uns fünf wichtige Begriffe notieren und diese anschließend mit Stichworten ergänzen. Meine fünf Begriffe:

Frieden (mit mir, mit der Vergangenheit, mit der Familie, in der Beziehung, im Leben, im Beruf, mit den Menschen, der Umwelt)

Freiheit (Bewegungsfreiheit, Zufriedenheit, Unabhängigkeit, Lebensfreude, Glück)

Angstfreiheit (Freiheit, Fliegen, Freude, Abenteuer, Reisen, Lust, Leben, Glück)

Gesundheit (Zufriedenheit, Mut, Selbstsicherheit, Glück, Stärke, Sport)

Energie (Ziele im Leben haben, Geduld, Spaß, Kraft)

 

Bei der anschließenden Meditation hatte ich eine Vision:

Ich dachte an den Vogel, den ich beim Mittagsspaziergang sah und der scheinbar auf einem Zaun saß. Er sah aus der Ferne so lebendig und groß aus wie ein Rabe. Als ich näher herantrat, sah ich, dass er aus Metall oder einem anderen Material gebaut und dort befestigt wurde.

Und in der Meditation wurde der Vogel plötzlich lebendig. Er konnte sich vom Zaun wegbewegen. Ich war der Vogel, der aus seiner Versteinerung ausbrach und fliegen konnte. Ich flog über die Hügel, über die Burg und über das Meer. Ich sah Delfine und flog immer weiter Richtung Norden, bis ich auch Wale sehen konnte. Es war herrlich.

Anschließend musste ich weinen. Nein, das ist nicht richtig, es liefen einfach nur Tränen. Ich habe nicht geweint, weil ich gar keinen Grund zum Weinen hatte.  Aber wo kamen dann die Tränen her? Warum kamen sie?

Es ist nun 20.30 Uhr und ich liege im Bett und bin müde. Es ist eine schöne Müdigkeit. Nicht diese Erschöpfung, die ich aus dem Alltag kenne. Vielleicht kann ich noch etwas lesen, bevor ich einschlafe.

Es kommt eine sms von meinem Partner. Die Müdigkeit ist weg und auch der Frieden. Wut steigt auf. Vielleicht sollte ich alle rausschmeißen, die mich ärgern.

Ich habe diese Notizen in all den Jahren nicht mehr angerührt und kann nur staunen. Ich verstehe jetzt, was damals an diesem einen Tag schon alles berührt und aufgerissen wurde. Ich war einerseits voller Vorurteile und hatte Angst vor Nähe und Körperkontakt mit fremden Menschen, und andererseits war ich so offen wie eine Mimose in voller Blüte, die bei der geringsten Berührung mit sich selbst oder anderen sofort auseinander fiel.

Ich wusste nicht, was Spiritualität ist und ich wusste nichts von Yoga. Und weil ich darüber gar kein Wissen hatte, hatte ich auch keine Konditionierungen und war so unschuldig wie ein Kind. Ich ließ mich ganz naiv einfach in alles hineinfallen, und es war das Beste, was ich machen konnte. Wahrscheinlich hatte ich auch gar keine andere Wahl, denn ich war am Ende mit meinen Kräften.

Alles, was ich hier bei meinen ersten vorsichtigen Schritten nach Innen erlebte, sollte später irgendwann einmal eine Rolle in meinem Leben spielen. Die Vision, die ich während der ersten Meditation in meinem Leben hatte, war, wie ich heute weiß, ein Hinweis. Der Flug über das weite Meer, bis ich Wale sehen konnte. Wale. Warum Wale?

Sie werden später, als ich frei von Angst wurde, in meinem Leben noch auftauchen. Aber das konnte ich damals noch nicht wissen, oder? Aber warum musste ich dann weinen? Oder vielmehr, was weinte da in mir? War da etwas ganz tief in mir, das mehr wusste?

Hier an diesem ersten Tag fing eine innere Reise an, und aus einem Leben, das sich Tag für Tag immer nur als Kampf und Krampf darstellte, konnte endlich nach und nach ein Leben voller Abenteuer und Wunder werden.

Ich wünsche euch eine schöne Woche.


6 Gedanken zu “Erste Begegnung mit Yoga

  1. Danke für diesen so ehrlichen und berührenden Text. Vieles davon kommt mir bekannt vor. Es hat mit dem Frauenbild- Selbstbild zu tun. Nein sagen beschädigt mein schönes Bild von mir. Die Wut richtet sich gegen alles, das mich in diesen Zwiespalt versetzt. Das selbstbild, die Kategorien gut-schlecht müssen korrigiert werden. Nicht leicht. Liebe Grüße

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