Wie alles anfing

Natürlich hatte ich schon von Yoga gehört. So machte ich z.B. auf Anraten einer Bekannten, ohne zu wissen, was das eigentlich ist, Kundalini-Übungen, die mir oft bei meiner Migräne geholfen haben. Aber erst im Frühjahr 2010 kam ich tatsächlich mit Yoga in Berührung, als ich zu einem Retreat auf die Insel Lesbos fuhr.

Diese Reise war das Ende von der Vorstellung, alles festhalten und kontrollieren zu müssen und damit der Anfang einer völlig neuen Sichtweise auf das Leben.

Bei meinem Blick zurück helfen mir die Aufzeichnungen aus meinen Tagebüchern, die ich hier auszugsweise mit euch teilen möchte. Es geht um typische Lebenskrisen, und sicher entdeckt ihr hier Parallelen zu eurem Leben.

Seit 1997 schreibe ich auf, was mich bewegt, denn zu dieser Zeit hielten Einsamkeit und Traurigkeit Einzug in mein Leben. Aus der anfänglichen Traurigkeit wurde irgendwann eine tiefe Depression, die lange Jahre anhielt, bis ich dann Ende 2004 einen Koffer nahm und auszog. Ein Zurück gab es nicht mehr, und am Ende kam die Scheidung.

2010 wurden meine Tagebuchaufzeichnungen wieder umfangreicher, denn ich steuerte geradewegs auf eine neue Lebenskrise zu. Plötzlich tauchten die gleichen Fragen auf, die ich mir Ende der 90iger Jahre schon gestellt hatte. Fragen, die ihr euch sicherlich auch schon oft gestellt habt.

Tagebuch 06.03.2010

Gestern Abend konnte ich wieder nicht einschlafen. Zuviel geht mir durch den Kopf. Beziehung. Arbeit. Vernachlässige ich die Kinder?

Wer bin ich? Ich bin Mutter für meine Kinder und Partnerin für meinen Freund. Ich bin die Versorgerin. Ich bin aber auch Chefin und gleichzeitig Mutter für die Mitarbeiter. Die sich – typisch in der Türkei – um alles und jeden kümmert. Ich bin auch Partner für die Kollegen in Deutschland.

Was will ich? Ich suche keine berufliche Verwirklichung. Ich will keinen Ruhm oder Anerkennung. Das interessiert mich nicht und ich habe das auch nie angestrebt. Das hat nichts mit mir zu tun.

Wie in den Jahren ab 1997 hatte ich mich wieder völlig verloren. Damals war ich die Frau von …, die Mutter von …, die Schwiegertochter von … usw. Mein Name und meine Person waren völlig verschwunden. Mich gab es überhaupt nicht mehr. Und nun, nach so vielen Jahren bin ich wieder an dem gleichen Punkt angelangt.

Ende der 90iger Jahre war ich vollkommen abhängig in einem fremden Land und hatte zwei kleine Kinder, die ich nicht verlassen wollte.

2010 war ich jedoch unabhängig. Ich hatte die Kinder nach der Trennung sehr schnell zu mir geholt und ich habe hart gearbeitet, um Ihnen finanzielle Sicherheit und Geborgenheit geben zu können. Seit fünf Jahren hatte ich einen guten Job als Geschäftsführerin bei einem deutschen Forschungsinstitut in Istanbul. Wir hatten eine wunderschöne Mietwohnung direkt am Wasser. Ich hatte seit über einem Jahr einen neuen Partner. Nun könnte doch eigentlich alles so schön sein. Man könnte genießen, Spaß und Freude haben. Für diejenigen, die keine Geldsorgen hatten, konnte Istanbul 2010 noch das Paradies sein. Es gab nichts, was es nicht gab, und die Lage der Stadt, das Wetter und die Menschen an sich luden regelrecht zur Lebensfreude ein.

Aber alles sollte anders kommen. Mein neuer Partner, der von Deutschland zu mir nach Istanbul gezogen ist, konnte in diesem Land beruflich nicht Fuß fassen. Er war daher mit dem Kopf und wohl auch mit dem Herzen immer mehr in Deutschland. In meinem Job traten ebenfalls unerwartete Veränderungen ein.

Wenn ich nach der Arbeit abends müde und erschöpft nach Hause kam, erwarteten mich dort alle mit ihren Forderungen oder es gab Auseinandersetzungen. Irgendwann fiel mir auch auf, dass in dieser neuen Wohnung alle ein eigenes Zimmer für sich hatten, nur ich  hatte keinen Raum, in den ich mich zurückziehen konnte. Ich hatte jetzt das erste Mal nach langer Zeit wieder das Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe.

Tagebuch 07.03.2010

Heute Morgen scheint wieder die Sonne und ich habe geträumt. Im Traum habe ich zweimal mit der Fähre eine Reise angetreten. Die erste Fähre verpasse ich knapp und falle, nein ich springe ins Wasser, um sie noch zu erreichen. Man hat mich aus dem Wasser gefischt. Ich sitze, warm eingehüllt auf dem Deck des Schiffes und unterhalte mich.

Auf der zweiten Fähre sitze ich an der Außenseite des Schiffes. Links von mir sitzt ein Mann und an meiner rechten Seite eine Frau. Sie kennt ihn und sie erzählen mir seine Geschichte.

Spaziergang am Wasser. Mir ist schwindlig. Ich fühle mich nicht sicher auf den Beinen. Mein Kopf ist nicht klar.

Vor dem Einschlafen denke ich darüber nach, ob ich an einem Schweige- oder Yoga-Retreat teilnehmen soll, um wieder zu mir zu finden und mal aus der Enge auszubrechen. Mein Partner motiviert mich dazu. Er selbst denkt auch an einen eigenen Aufbruch Richtung Deutschland.

Ich denke über meinen Traum nach. Hatte er etwas mit dem geplanten Retreat zu tun?

Tagebuch 08.03.2010

Ich stehe um 6 Uhr früh auf und es ist schön, wenn alle noch schlafen. Die einzige Zeit der Ruhe.

Mitarbeiter der Geschäftsführung von der Mutterfirma in Deutschland sind da. Nach der Arbeit ein gemeinsames Arbeitsessen. Spät abends zu Hause keine Ruhe.

Bringe die Kleine ins Bett. Gespräche mit M. Wieder keine Zeit für mich.

Tagebuch 09.03.2010

Wenig geschlafen. Trotzdem mag ich es, früh aufzustehen.

Gespräche mit den Kollegen aus Deutschland am Abend. Der Druck aus Deutschland wird immer größer. Von mir werden als GF Handlungen verlangt, die ich in diesem Land nicht durchführen kann und möchte, da es womöglich den Tatbestand einer Straftat erfüllt. Da ich selbst Juristin bin, kenne ich die gesetzliche Lage und die Gefahr für das Unternehmen und für mich persönlich sehr genau.

Tagebuch 10.03.2010

Heute Morgen beim Aufwachen war ich noch immer traurig über die Entwicklung des Gesprächs mit den Kollegen. Mir war übel. Muss mich um die Schule meiner Kleinen kümmern. Ich mache einen Spaziergang am Meer. Das tut gut.

Auf der asiatischen Seite in Istanbul hat man den größten Teil der Küste zubetoniert, um Platz für eine Küstenstraße und Grünflächen für die Anwohner zu schaffen. Ich konnte praktisch von meiner Haustür im Zentrum der Stadt bis zu den Werften nach Tuzla, dem letzten Stadtteil im Osten von Istanbul laufen. Später hat man auch Fahrradwege angelegt. Da Sport nicht zum Alltag der meisten Türken gehört, gab es am Anfang nur wenig Leute, die ich morgens an der Küstenstraße traf. Später wurden es immer mehr Menschen, die dort spazierengingen, joggten oder Fahrrad fuhren. Am meisten lieben es die Türken, auf den Grünflächen ein Picknick zu machen oder zu grillen. An den Wochenenden gibt es jede Menge Händler, die Waren und Lebensmittel anbieten. Sie haben einen Bauchladen oder einen kleinen Handwagen, der gefüllt ist mit gekochten Maiskolben, Simit, warmem Reis mit Köfte oder Süßwaren, wie Lokum oder Zuckerwatte. Wasserverkäufer laufen überall herum und immer dazwischen zahme Straßenhunde oder Katzen, die alles in Ruhe aus einem gewissen Abstand beobachten. Man kann auf Ballons schießen, die am Ufer festgebunden wurden oder einem Straßenmusiker lauschen. Es ist irgendwie immer Jahrmarktsstimmung, besonders an den Sonntagen, wenn die meisten Türken frei haben und zu Millionen mit der ganzen Familie nach draußen strömen.

Tagebuch 11.03.2010

Gestern Abend konnte ich wieder nicht einschlafen. Es ist ein richtiger Kampf im Bett zwischen mir und dem Schlaf.

Ich habe geträumt, dass ich an meinem ganzen Körper Pickel habe. Kleine Krater, die dann lang hochschießen und innen sind sie voll von Eiter, den ich langsam von unten nach oben rausdrücke.

Beim morgendlichen Spaziergang am Wasser haben wir Delfine gesehen. Im Frühjahr schwimmen sie durch den Bosporus ins schwarze Meer. Ich bin glücklich, wenn ich sie betrachte. Sie sind so frei und lebendig.

Im Büro gehen neben der normalen Arbeit die Gespräche weiter und alles, was ich spüre ist kein Miteinander, sondern Angst und Druck.

Tagebuch 12.03.2010

Ich habe viel geschlafen. Werde gar nicht richtig wach. Laufen am Wasser.

Während ich mit dem Auto zur Arbeit fahre, höre ich nach langer Zeit wieder Musik. Ich liebe Musik, höre sie nur nicht, weil sie mich berührt, mich aufbricht und meine Gefühle zu Tage fördert. Das konnte ich in der letzten Zeit  nicht gebrauchen. Wenn ich Musik höre, bin ich Musik. Ich lebe und fühle alles mit. So ein Mensch kann dann aber im Geschäftsalltag nicht funktionieren.

Stattdessen ziehe ich mich immer mehr in mich selbst zurück. Entferne mich von M. Lasse ihn los. Das tut mir gut. Einerseits spüre ich mich wieder mehr und eine Sehnsucht nach Freiheit ist da.

Andererseits kommt jetzt auch immer öfter diese alte Traurigkeit über den Verlust der Familie und das Familienhaus für meine Kinder hoch. Selbstmitleid und die Frage, warum das alles so kommen musste. Ich wollte nie gleichzeitig Mutter und Vater sein und auch noch Karriere machen. Meine Kinder sollten so etwas nicht durchmachen müssen. Es ist, als würde ich immer wieder um einen Toten trauern.

Dann stürzt in Gedanken alles um mich herum ein. Alles wird schwarz. Nichts ist mehr wichtig. Als wäre das Leben vorbei. Ich fühle mich schuldig und möchte meine Kinder beschützen und immer bei mir haben.

Abends zu Hause Auseinandersetzungen. Ich höre zu, wie man mir vorwirft, ich wäre zu müde. Zu erschöpft. Immer ohne Energie. Das trifft zu und doch trifft es mich hart, da ich das Gefühl habe, ich fühle mich so, weil alle an mir herumzerren. Soviel gekämpft, soviel gearbeitet. Soviel geweint. Das Gespräch bleibt offen. Alles hängt in der Luft. Ich denke, lass ihn gehen. Er wird dich nicht verstehen.

Später höre ich den TV-Lärm vom Wohnzimmer bis ins Schlafzimmer. Es nervt. Ich bin total erschöpft.  Wie schön wäre es, wenn man etwas gemeinsam in Frieden machten könnte. Musik hören. Lieben.

Die Kleine ist wieder krank.

Wenn ich mit dem Auto ins Büro fuhr, dann brauchte ich oft bis zu vier Stunden zur Arbeit und zurück. Das ging und geht Millionen von anderen Istanbulern genauso, wenn sie für den Arbeitsweg den Bosporus überqueren müssen. Das konnte man damals nur über die Bosporus-Brücke (die man heute die „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ nennt) oder über die Fatih Sultan Mehmet Brücke. Ansonsten konnte man auch mit den Fähren  übersetzen. Dann war man jedoch an bestimmte Zeiten gebunden. Vom Zeitaufwand her machte es jedoch kaum einen Unterschied.

Zwar gibt es heute zusätzlich den Bosporus-Tunnel sowie die 3. Bosporus-Brücke und eine Metroverbindung. Aber da der Zustrom der Menschen nach Istanbul nicht abgenommen hat und immer mehr neue Hochhaussiedlungen gebaut werden, aus denen Fluten von Menschen und Autos am Morgen auf die Straßen strömen und weitere Staus verursachen, hat sich am Verkehr in Istanbul nichts geändert.

Es spielt eigentlich keine Rolle mehr, wann und wo man sich in Istanbul mit dem Auto bewegt. Es ist immer voll. Istanbul ist zwar nicht die 1. Stau-Hauptstadt der Welt, liegt aber nach der neuesten Untersuchung für das Jahr 2018 von INRIX immerhin auf dem 2. Platz, gleich nach Moskau und vor Bogota und Mexiko-City. An dieser Stelle habe ich mal nachgerechnet, wie viel Zeit ich ab 2010 in den davor liegenden 7 Jahren meines Arbeitslebens in Istanbul im Verkehr verbracht habe und bin auf genau 224 Tage, also fast ein ganzes Jahr gekommen.

Wenn ich heute nach Istanbul fahre, dann vermeide ich so gut es geht, Auto zu fahren. Als ich letztes Jahr meine Tochter in Istanbul besuchte, brauchten wir für die letzten 3 – 4  Kilometer eine Stunde. Das Auto hing dabei meistens fast senkrecht in den kleinen engen Straßen. Da braucht man wirklich Geduld und Nerven.

Man sollte es nicht glauben, aber am schlimmsten ist es an den Wochenenden. An einem Sonntag von mittags bis spät in die Nacht sollte man sich nicht auf eine Autofahrt einlassen, denn da muss der Türke mit seiner Familie irgendwo hinfahren. Einen Ruhetag kennen diese Menschen nicht. In ihren Genen steckt wahrscheinlich noch immer das Nomadentum.

Tagebuch 16.03.2010

Schreckliche Träume. Um 6.30 Uhr wach. Ich versuche an der Küstenstraße aus dem Spaziergang ein schnelleres Gehen zu machen, damit ich irgendwann mal wieder eine halbe Stunde durchlaufen kann. Ich merke, dass ich noch weit davon entfernt bin.

Diesmal fahre ich nicht mit dem Auto, sondern mit der Fähre ins Büro. Ich hetze, um die Fähre noch zu erreichen. Auf dem Schiff war ich schon sehr müde und der Weg bergauf ins Büro ist mir außerordentlich schwer gefallen.

Stress im Büro. Ich bin müde und erschöpft. Ich hetze abends wieder zu Fähre, um sie nicht zu verpassen. Auf dem Schiff Hitze, Ängste steigen auf.

Zu Hause muss ich mich erst einmal hinlegen. M ist sehr aufmerksam. Ich staune, wieviel Energie er hat. Er trägt auch keine Verantwortung. Für nichts.

Ich liebte diese Überfahrten mit der Fähre, denn sie waren eigentlich ein guter Start in den Arbeitstag und ein guter Beginn für einen entspannten Feierabend. Auf den alten Schiffen konnte man auch draußen sitzen. Oft habe ich, wie viele andere auch, die erste Mahlzeit des Tages auf dem Bosporus eingenommen. Ein Simit oder ein Toast mit Kasarkäse und dazu ein Glas Tee, einen Nescafe oder auch Orangensaft. Man hörte nur den kräftigen Motor der alten Boote, das Schlagen der Wellen und das Kreischen der Möwen, die immer mit uns flogen, in der Hoffnung auf einen Bissen von unserem Frühstück. Ab und zu gab es auch Delfine und Kraniche. Wenn die Sonne unterging, war der Blick aufs Marmarameer oder auf Istanbuls Küsten so schön, dass man sich immer vorkam, wie auf einer Postkarte. Wer das je erlebt hat, der konnte nicht anders, als Istanbul zu lieben. Ja, es war schwer von A nach B zu kommen, aber es hatte auch etwas ganz Besonderes. Freundliche Gesichter, hilfsbereite Menschen, und jeder Tag war ein Abenteuer. Denn es konnte vorkommen, dass die Fähren nicht fuhren, da es Nebel gab. Dann musste man sehen, wie man nach Hause oder zur Arbeit kam. Oder es gab Schnee. Dann kam es vor, dass ich nicht mal mehr aus dem Viertel herauskam. War man mit dem Auto unterwegs, konnte ein Unfall oder ein Besuch des Staatsoberhaupts in der Metropole den Verkehr für Stunden lahm legen. Es war so gut wie unmöglich etwas zu planen, und wenn man sich verabredete, dann musste man stets 30 Minuten Verspätung einkalkulieren. Das lehrte mich, entspannt und flexibel zu bleiben.

Wenn ich heute mit der Fähre fahre, dann sind es meistens neuere Schiffe. Sie haben kaum Platz an Deck und es gibt keine stille Ecke mehr, da Musiker und Straßenverkäufer um Aufmerksamkeit und etwas Geld buhlen. Das ist oft sehr laut und aufdringlich und die ganze zauberhafte Atmosphäre der Überfahrt wird zerstört.

Tagebuch 17.03.2010

Telefonat mit meinem Arbeitgeber in Deutschland. Es kommen keine guten Gefühle rüber und es ist mir noch immer nicht klar, was eigentlich passiert ist. Niemand redet offen mit mir. Wenigstens erfahre ich von ihm, dass sich mein Freund und Firmenanwalt, den ich jahrelang unterstützt habe, über mich bei ihm beschwert hat. Das ist total hinterhältig und feige und von einem Anwalt, den man bezahlt, ungeheuerlich.

Ich spürte, wie alles zusammenfiel. Mein Freund suchte Arbeit in Deutschland und war bei einem Bewerbungsgespräch. Mein Verhältnis zu meinem Chef in Deutschland, welches mir immer sehr wichtig war, war auf einmal schlecht, und wenn kein Vertrauen mehr vorhanden ist, ergibt die Arbeit für mich keinen Sinn mehr. Schlimm war für mich, dass ich nicht wusste, was da eigentlich hinter meinem Rücken so lief.

Hinzu kam, dass das hinterlistige Verhalten des ehemaligen juristischen Arbeitskollegen und guten Freundes für mich ebenfalls überhaupt nicht nachvollziehbar war. Die Männerwelt erschien mir plötzlich völlig rätselhaft und feige. Ist das die Methode, wenn Männer Angst haben und um ihren Job kämpfen? Ich merkte, dass ich damit nichts zu tun habe wollte. Es ging mir immer um die Menschen, um das Team und nie um den Job an sich oder um die Stellung und Position.

Tagebuch 18.03.2010

Traum: in einem Haus finde ich den Weg nach draußen nicht. Leute sind mir immer im Weg. Sie machen mir Vorwürfe, weil ich einen Weg nach draußen gehen möchte.

Aus dem morgendlichen Laufen wird nur ein müder Spaziergang.

Viel Verkehr. Heute fahren sie alle wie die Bekloppten. Geschäftsveranstaltung in einem großen Hotel erfolgreich abgehalten. Ich sollte mein Türkisch noch mehr verbessern, um noch freier auf den Veranstaltungen reden zu können. Gleichzeitig merke ich Widerstand, denn die Lust auf diese Arbeit wird gerade mit Volldampf von der deutschen Geschäftsführung zunichte gemacht.

Im Gesicht bekomme ich einen Ausschlag. (Hier beim Schreiben fällt mir erst der Zusammenhang vom Traum über die Pickel und dem Ausschlag auf)

  1. sitzt nur noch vor dem PC in seinem eigenen Zimmer. Ich komme nicht an ihn heran. Mit dem Job in Deutschland will es auch nicht klappen.

Tagebuch 19.03.2010

Ausschlag wird schlimmer. Migräne. Fressanfälle. Ich werde immer geräuschempfindlicher.

Ich musste zu meinem alten Familienhaus fahren, um Unterlagen abzuholen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Seitdem ich es verlassen habe, hatte ich nie wieder das Gefühl, dass ich irgendwo richtig zu Hause bin. Ich kann in allem, was ich tue keinen Sinn erkennen und habe das Gefühl, alles ist nur ein Kampf, der kein Ende nehmen will. Die Seele quält sich durch den Tag und durch die Nacht. Mein Körper macht nun immer schneller schlapp und zeigt es auch nach außen. 

Die Migräne kommt nun immer öfter und ich habe ständig Infektionen an den Atemwegen, Nebenhöhlen oder der Blase. Der Schwindel kommt immer wieder. Als ich wegen des Schwindels mal zu einem Arzt ging, untersuchte der mich ganz kurz, und ohne mich überhaupt zu kennen oder etwas zu fragen, verschrieb er mir Antidepressiva. Ich habe diese Tabletten sofort entsorgt und habe nur gedacht, was sind das für Ärzte?

Tagebuch 20.03.2010

Frühstück bei einer Freundin. Mein Gesicht sieht furchtbar aus und die Haut juckt und brennt. Auf dem Weg zu meiner Freundin habe ich ihr und auch für meine Tochter und meinen Freund Blumen gekauft und mir vorgestellt, wie sehr sie sich darüber freuen werden.

Als ich nach Hause komme gab es Streit zwischen den beiden. Ich sehne mich nach Frieden.

Heute habe ich mir im Internet einen Yogakurs für eine Woche auf der Insel Lesbos ausgesucht. Ein Kurs für Angstlöwen (nach dem Buch von Marion Bohn). Anschließend geht es mir viel besser. 

Ich lese im Internet über die Erfahrungen von Marion und muss vor Erleichterung weinen, weil sie dort beschreibt, wie sie ständig Harnwegsinfektionen hatte und wie die Seele über die Blase zu ihr gesprochen hat. Immer wiederkehrende Infektionen, Schwindel, Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme und Ängste. Alles ist mir so vertraut. Ich fühle mich so erleichtert.

Dort steht auch: “Eine Perfektionistin, die nicht nein sagen kann und ständig unter Stress steht hat die Zutaten für den Angstcocktail. “

Passt!

Es passte auch, dass der Kurs auf einer griechischen Insel stattfand, zu der ich nicht fliegen musste, denn dazu war ich aufgrund meiner Flugangst nicht in der Lage. Nach Lesbos konnte ich gut kommen: erst mit der Autofähre von Istanbul nach Yalova dann bis nach Ayvalik fahren und dann mit der Fähre nach Lesbos. Fähre, da war doch was? Werde ich das erste Boot verpassen und ins Wasser springen müssen, wie in meinem Traum vom 7.03.2010?

Tagebuch 21.03.2010

Traum: Ich sitze im Flugzeug und fliege. Ich bin entspannt. Plötzlich geht die Spitze des Flugzeugs nach unten und ich werde doch unruhig und gehe von ganz hinten nach vorne zum Cockpit. Wir sind im Landeanflug. Ich kann die Nase der Maschine sehen. Alle sind angeschnallt aber ich stehe da und denke, was soll ich machen, denn das Flugzeug fliegt jetzt sehr tief über eine Stadt und es wird gleich mit seiner rechten Tragfläche so etwas wie ein Stadttor streifen. Die Piloten können nicht mehr eingreifen. Ein Fehler. Ich denke nur, dass ich vorne im Gang und nicht angeschnallt bin und überlege, wie ich mich schützen kann, wenn die Maschine gleich gegen dieses Tor knallt. Am besten rolle ich mich auf dem Boden zusammen denke ich und spüre den Aufprall nicht.

Langsam werde ich aufgeregt und freue mich auf den Kurs. Ein Ausbruch aus der Welt, die mir gerade so zusetzt. Vielleicht bleibe ich gleich auf der Insel. Ich bin voller Zuversicht und Hoffnung. Der Kurs wirkt schon, denn im Traum bin ich ja schon geflogen.

Ich sehe jedoch schrecklich aus. Der Ausschlag wird immer schlimmer. Morgen gehe ich zum Arzt.

Tagebuch 22.03.2010

Gestern konnte ich wieder nicht einschlafen. Es gehen mir zu viele Dinge durch den Kopf. Dieses Verhalten der Kollegen in Deutschland. Ich spüre genau, dass da etwas passiert und niemand spricht mit mir, dabei waren wir doch befreundet. Ich schleiche mich aus dem Schlafzimmer und schlafe im Salon. Ich will alleine sein und kann dann irgendwann einschlafen.

Ich war beim Hautarzt. Mein Immunsystem ist schwach. Ich habe eine Sonnen- und Lichtallergie. Im März.

Tagebuch 23.3.2010

Was für ein Tag. Ich glaube nun wirklich, dass ich mit meiner Firma fertig bin. Was für ein Druck. Warum machen sie das? Ich werde mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wir stehen so gut da und ich werde dieses Unternehmen wie immer nur mit den besten Mitarbeitern und Zahlen übergeben.

Ich rede auch mit dem Firmenanwalt und ehemaligem Freund und traue ihm jetzt jede Schweinerei zu. Er droht mir, dass er weitere Mails an den Chef nach Deutschland schicken wird, wenn ich ihm keine weiteren Aufträge gebe. Dabei habe ich ihm von Anfang an gesagt, dass die Mutterfirma mir aufgetragen hat, die Kosten für einen Firmenanwalt abzuschaffen und dass es nicht meine Entscheidung war. Das ist doch völlig irrsinnig, wie er sich verhält.

Haben die Männer keinen logischen Verstand und nur mit ihrem Ansehen und ihrer Ehre zu tun? Aus Menschen werden plötzlich Monster, wenn es nicht so läuft, wie sie es gerne möchten. Liegt es daran, dass ich eine Frau bin? Würden sie mit einem Mann auch so umgehen?

Ich habe heute die erste Anzahlung für den Yoga-Kurs gemacht und bin froh, dass ich diesem Irrenhaus der Männer bald entfliehen kann. Ich habe starke Schmerzen im Hinterkopf. Das nimmt mich alles so sehr mit, obwohl ich das gar nicht möchte.

Tagebuch 24.03.2010

Für die Firma waren wir heute beim Finanzamt. Das war ein sehr unerfreulicher Besuch und meine Vorbehalte haben sich bewahrheitet. Das wird noch ordentlich Ärger geben. Dass ich Recht hatte, dürfte dem Mobber nicht so gut gefallen und er wird das sicherlich in Deutschland so hindrehen, dass es anders aussieht. Ist mir aber langsam alles irgendwie egal. Ich freue mich auf Yoga.

Die Kleine hustet wieder.

Tagebuch 25.03.2010

Heute erhalte ich einen Anruf vom Mobber. Wie erwartet reagiert er sehr aufgeregt und irrational und es ist, wenn es nicht so traurig wäre, fast schon komisch. Er wirft mir nun vor, das mit dem Finanzamt wäre nur passiert, weil ich schon damals all die Jahre zuvor alles falsch gemacht hätte. Dabei hat er mich damals als (IT Manager) und Freund sehr unterstützt und ich habe außerdem noch als Büroleiterin und nicht als GF alles nur mit Absprache der Mutterfirma in Deutschland unternommen. Es waren also Anweisungen und keine Alleingänge meinerseits. Somit müsste er eigentlich seinem Boss in Deutschland sagen, dass er alles falsch angewiesen hätte.

Hinzu kommt, dass tatsächlich gar nichts falsch gemacht worden ist, sondern ihm das Ergebnis nur deshalb nicht in den Kram passt, weil es zeigt, wie irrsinnig seine jetzigen Forderungen an mich sind. Denn er verlangt allen Ernstes die ganze Zeit, seitdem er für die Auslandsbüros zuständig ist, und das ist das Skurrilste von allem, ich solle das Gleiche (und somit das Falsche) noch einmal tun. Und weil ich ihm die ganze Zeit sage, wie gefährlich das ist und ich die Firma und mich persönlich nicht in Schwierigkeiten bringen darf, mobbt er mich seit Wochen. Verlangt er aus persönlichem Ehrgeiz von mir, dass ich das tue? Worum geht es hier eigentlich? Um ihn oder um die Firma? Warum kämpft er gegen mich? Ich kann das alles nicht nachvollziehen.

Ich bin höflich und freundlich. Rege mich nicht auf. Wundere mich nur.

Tagebuch 26.03.2010

Der Ex-Anwalt hat mir wieder gedroht. Gott sei Dank war meine Assistentin dabei. Der neue GF in Deutschland und ehemalige Freund/Kollege droht mir ebenfalls. Er will jetzt über jeden Schritt informiert werden und außerdem soll ich meinen Urlaub absagen, damit wir bestimmte Termine zusammen erledigen können. Er könne nur genau zu meiner Urlaubszeit nach Istanbul kommen. Ich lehne es ab, meinen Urlaub zu verschieben, da das bei einem Retreat gar nicht geht und ich den Urlaub gerade mehr brauche, als alles andere auf der Welt. Ich erkläre auch, dass es für die Firma kein Problem ist und ich alles vorher in Ruhe erledigen werde und ich die Firma nicht erst seit drei Tagen führe.

Unter was für einem Druck muss er stehen, wenn er über 20 Auslandsfilialen auf diese Art und Weise kontrollieren will. Ist das typisch für einen (H)-ITler? Wie ich ihn kenne wird er das schon selber irgendwie versuchen zu kontrollieren. Ich habe damals selbst gesehen, wie er vor meinen Augen mit Hilfe seines Zugriffs auf alle Daten im Intranet den GF vor ihm rausmobbte. Nun hat er es eben auf mich abgesehen.

Meine Kleine ist immer noch krank.

Tagebuch 27.03.2010

Es ist Samstag. Starke Migräne und ich liege den ganzen Tag im Bett. Ich habe viel geweint. Was passiert um mich herum? Was habe ich bewegt? Darf man als Frau seinen Mund nicht aufmachen? Alle sachlichen Argumente werden als emotionaler Ausbruch gewertet, dabei handeln doch gerade diese Männer um mich herum völlig irrational und emotional. Ich habe nie geschrien oder beleidigt oder hinterrücks gehandelt.

Tagebuch 28.03.2010

Spaziergang am Wasser. Ich spreche mit meiner Freundin. Sie sagt, die Männer können mit mir und meiner Art nicht umgehen.

Mein Geschäftsführervertrag wurde um ein weiteres Jahr verlängert.

Abends habe ich Durchfall. Schiss.

Tagebuch 29.03.2010

Durchfall. Müde und erschöpft. Mir ist heiß. Nach der Arbeit keine Ruhe zu Hause.

Es kommt eine Mail von der Yoga-Lehrerin, die den Kurs auf Lesbos leiten wird. Sie schreibt, ich solle mich in drei Worten beschreiben. Mir fällt da gar nichts ein. Verspanntes genervtes Nichtsmehrübriggebliebenes?

Wenn doch wenigstens meine Wut wieder da wäre. Ich habe selbst dafür keine Kraft mehr. Ich bin ohne Energie.

Tagebuch 30.03.2010

Heute erhalte ich eine neue Einladung vom Generalkonsulat. Frau Merkel kommt in die Türkei und ich bin zum Konzert und anschließenden Cocktail eingeladen.

Ich bin kein Merkel-Fan aber aus meiner Situation heraus entsteht der Wunsch, Frau Merkel zu gratulieren, wie gut sie sich in dieser von Männern beherrschten politischen Welt durchsetzt. Wo nimmt diese Frau die Kraft her? Als Frau muss man immer mehr geben, als ein Mann. Wir lieben und brauchen die Show nicht, sondern halten uns an Fakten. Es geht um die Sache und nicht um unsere Person. Das merkt man ganz besonders bei Merkel, die diese Arbeit nicht macht, um irgendwer zu sein.

Der Empfang war sehr interessant. Erdogan und Merkel haben im kleinen Rahmen eine Rede gehalten. Aufgrund meiner persönlichen Situation und weil es dort so eng und warm war, fehlte nicht viel, dass ich eine Panikattacke bekam. Meine Beine wurden von der Hitze immer dicker, die Stiefel immer enger und meine Hände schwollen auch an. Ich ging auf, wie ein Ballon.

Aufgrund der regelmäßigen Veranstaltungen beim Generalkonsulat kennen sich die meisten Geschäftsführer deutscher Unternehmen untereinander. Viele Gesichter kommen mir bekannt vor. Man grüßt sich.

Zu Hause erwartete mich Streit zwischen den Kindern und M. Ich glaube, zu Hause stresst mich nichts so sehr, als wenn es Streit gibt zwischen den Kindern und M.

Es gibt keine Ruhe.

Oft war ich im Generalkonsulat oder in der Sommerresidenz in Tarabya. Wohlgefühlt habe ich mich aber dort in der Regel nicht. Als ich in dieses Land kam, hatte ich mich nie als Ausländerin gefühlt und ich bin auch nie so behandelt worden. Auch meine Kinder habe ich von Anfang an integriert und sie nicht mit dem Bewusstsein erzogen, etwas Besseres oder Anderes zu sein, als ihre Mitmenschen. Ich habe in diesen deutschen Kreisen oft gespürt, dass die Menschen sich über die Arbeit, die sie machten oder die Firmen oder Nationen, die sie vertraten, identifizierten. Die erste Frage lautete daher immer: und was machen sie? Und dann zückten sie ihre Visitenkarten. Ich bin der/die GF von Blablabla. Was für eine Arroganz. Es war alles furchtbar oberflächlich.

Warst du eines Tages nicht mehr in dieser Position, dann wurdest du nicht mehr eingeladen, denn du warst nicht mehr wichtig. Deshalb hingen sie auch immer alle so an ihren Posten. Die meisten wollten auch nicht zurück nach Deutschland, denn dort waren sie dann keine Übermenschen mehr. Nur noch normale Lehrer oder kleine Geschäftsführer, die nicht mehr mit dicken Firmenwagen und Chauffeur zur Arbeit gefahren, zu jeder Feierlichkeit in der Metropole eingeladen wurden und deren Hand man nicht herzlich am Eingang eines Konsulats persönlich geschüttelt oder den roten Teppich ausgelegt hat. Natürlich gab es auch Ausnahmen. Aber die meisten dachten immer, sie stünden über dem türkischen Volk, und damit konnte ich überhaupt nicht umgehen. Ich bin zu diesen Veranstaltungen gegangen, weil es für die Firma gut war und weil ich zum Vorstand einer Stiftung gehörte und mich blicken lassen musste. Oft gab es auch sehr schöne Konzerte und gutes Essen.

Eine liebe Freundin hatte eine Agentur und viele dieser und andere Veranstaltungen in der Türkei organisiert. Als wir für eine Amtszeit eine Frau Generalkonsulin hatten, ging es auch mal mehr um die Kultur und nicht nur um die Wirtschaft, so dass es bei vielen Besitzdienern zu einem großen Aufschrei kam. Sie vermissten ihre alten Saufkumpane an lustigen Abenden und golfspielenden Kumpel, mit denen man sich so schön gegenseitig verständnisvoll auf die Schultern klopfen konnte. Ich kann nur sagen, dass ich ab das erste Mal sehr gerne zu den Veranstaltungen gegangen bin, weil ich das Gefühl hatte, ein Mensch vertrete diesen wichtigen Posten.

Heute ist die Agentur meiner Freundin geschlossen, wie so viele Firmen, mit denen ich vorher zu tun hatte. Es gibt kaum noch Veranstaltungen dieser oder anderer Art.

In einem großen Hotel gingen die Feierlichkeiten weiter. Ich bin da nicht hingegangen, sondern vom Generalkonsulat runter zum Hafen gelaufen. Dort wartete ich auf das Schiff. Mir tat der Kopf weh und mir war schwindlig.

Unser Büro befand sich damals direkt gegenüber dem Generalkonsulat. Vom Fenster aus konnte ich auf den Eingang blicken. Diese Lage hatte einen großen Vorteil, denn sie war sehr zentral. Nur ein paar Schritte weiter nach oben war schon der Taksim-Platz. Dahinter lag ein schöner Park und man konnte in der Mittagspause spazieren gehen. Wollte man einkaufen oder draußen Mittag essen, dann musste man nur ein paar Schritte über den Platz laufen und kam zur Istiklal-Straße, einer Fußgängerzone und Touristenattraktion. Diese Straße war nie leer. Selbst morgens um 5 Uhr waren noch immer viele Menschen unterwegs. In der Mitte verliefen die Schienen einer historischen Straßenbahn. Links und rechts gab es nur Geschäfte und Restaurants. Aus jedem Laden erklang Musik. Die engen Seitenstraßen beherbergten kleinere Butik-Hotels oder Fischrestaurants, Kneipen und Diskos. Es gab viele alte Häuser mit einem ganz besonderen Flair. Ihr Innenleben war eine eigene kleine Welt mit mehreren Geschäfts- oder Büroräumen. Überall junge Menschen. Überall wurde geredet, gekauft und gelacht. Weiter unten gab es die Deutsche Buchhandlung, und dann die Deutsche Schule und das Goethe-Institut. Händler zeigten ihre Waren, und selbst ein Hauseingang wurde jeden Morgen aufs Neue zu einem Verkaufsstand umdekoriert. Wollte man das Haus betreten, musste man sich unter Tüchern, Socken oder Schals hindurchzwängen.

Am Ende der Istiklal-Straße kam man zum Galata-Turm. Die Geschäfte veränderten sich. Statt Bekleidung und Lebensmittel wurden nun überall Musikinstrumente angeboten. Da die Touristen im Bezirk Galata zunahmen, gab es hier die vielfältigsten Souvenir-Läden. Die Istiklal-Straße mit ihren kleinen Nebenstraßen war so voll, dass man kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Die Inhaber oder Verkäufer standen oder saßen immer vor dem Geschäft und hielten ein Schwätzchen mit den Nachbarn und luden die Vorübergehenden dazu ein, sich die Waren anzuschauen. Immer wenn ich auf der Istiklal war, hatte ich das Gefühl, lebendig zu sein. Ein Teil von etwas Großem und Schönen zu sein. Istanbul war eine Metropole und die jungen Menschen waren kreativ und engagiert. Ich war sehr froh und glücklich, ein Teil davon zu sein.

Wenn ich heute zum Taksim-Platz und der Istiklal-Straße komme, dann ist das ein Schlag in die Magengrube. Der Platz gleicht einem Friedhof. Es gibt Versammlungsverbot. Das Atatürk-Kulturzentrum, in dem ich früher öfter war, wurde abgerissen. Ein neues Zentrum gibt es bisher nicht. Im Moment sind die zuständigen Behörden mit dem Bau einer neuen Moschee am Platz beschäftigt. Viele Geschäfte auf der Istiklal-Straße sind heute geschlossen. Im Einkaufscenter stehen Geschäftsräume leer. Einige Restaurants sind noch offen, aber das Angebot hat sich stark verändert. Schriftzüge in arabischer Sprache stehen an den Fenstern und Türen und statt Bier, Wein und guter Speisen gibt es nun Tee, Cola und Fastfood. Die bunte Touristenschar ist verschwunden, und auf den Straßen sieht man stattdessen verhüllte arabische Frauen mit ihren Männern. Die Türken mögen sie nicht. Dunkle Gestalten bieten Waren in Plastiktüten und unter ihren dicken schwarzen Jacken an. Das alles ist mir fremd. Ich erkenne mein Istanbul nicht mehr wieder, und ich gehe daher auch nicht mehr an diese Orte. Es ist zu deprimierend.

Wenn man vom Büro nicht zum Platz, sondern in die entgegen gesetzte Richtung nach unten lief, kam man zum Hafen Kabatas. Den erreichte man auch, wenn man ganz steil zwischen den Häusern die vielen Stufen hinunterlief. Nicht eine Stufe war wie die andere, und man musste sehr genau aufpassen, sonst wurde es gefährlich. Die Straße schlängelte sich dann zwischen den Häuserreihen mal nach links und dann wieder nach rechts. Es gab keine gerade Linie und auch keinen Fußgängerweg. Wenn ein Auto kam, musste man zur Seite springen und aufpassen, dass man nicht in ein Geschäft hineinfiel, das von der engen Straße direkt in den Keller führte, und sich dabei den Hals brach. Immer waren Menschen auf der Straße. Kinder, die Ball spielten oder Fahrrad fuhren. Frauen schauten aus den Fenstern und ließen einen Korb herunter, damit man den Einkauf dort hineinlegen konnte. Ich habe mich damals in Istanbul immer sehr geborgen gefühlt.

Den Hafen gibt es heute nicht mehr. Damals ging mein Schiff von dort aus rüber nach Kadiköy. Von dort musste ich dann noch mit dem Taxi oder dem Dolmus bis zu meiner Wohnung fahren.

Statt hinunter zu laufen kann man auch den Finiküler benutzen. Dies ist eine kleine Bahn, die mit einem Seilsystem die steile kurze Strecke Taksim-Kabatas bedient.

Seit dem großen Erdbeben von 1999 hatte ich jedoch furchtbare Angst, mich in unterirdischen Gängen aufzuhalten und vermied daher dieses Verkehrsmittel und auch die Metro.

Tagebuch 31.03.2010

Ich träume davon, dass M. mich wegen einer anderen Frau verlässt und dass ich den Weg nach Hause nicht finde.

Im Büro habe ich Stress wegen dem Mobber.

Tagebuch 01.04.2010

Nach der Arbeit komme ich nach Hause und es gibt nichts zu essen. Es gibt nicht mal Brot, was ich mir machen kann. Das macht mich traurig und als ich nachfrage und M. auch noch wütend darauf reagiert, werde ich sauer. Ich führe alle zum Essen aus, bezahle hier die Miete und eine Putzfrau, die auch zwei Tage die Woche kocht und dann denkt zu Hause niemand daran, dass ich vielleicht nach der Arbeit was essen müsste? Der Abwasch stapelt sich. Der Mann sitzt nur vor seinem PC. Ich bin enttäuscht und weiß nicht, wann mir der Kragen platzt.

Tagebuch 02.04.2010

Viel geträumt. Von Wasser und gefährlich hohen Wellen. M mit vielen fremden Frauen.

Der Arbeitstag war anstrengend. Es geht um eine große Investition der Firma und es gibt formelle Schwierigkeiten. Der Mobber möchte, dass wir eine eigene Immobilie kaufen. Weil ich mich so stark unter Druck fühle und mein Vertrauen in einige Menschen verloren habe, bin ich sehr angespannt. Nachmittags wird mir schwarz vor Augen, als ich im Büro vom Stuhl aufstehe. Ich fühle mich erschöpft und müde. Auf dem Weg nach Hause ist mir schwindlig. Mir tut alles weh. Die Knie, die Arme, ja selbst die Zähne schmerzen und die Schläfen. Neben mir geht M. Ich spüre den Zorn in mir. Ich bin gerade nicht gerne an seiner Seite.

Nach dem Abendessen zu Hause fragt er mich, was ich jetzt noch vorhabe. Das fragt er immer, bevor er sich an seinen PC setzt, wo er schon den ganzen Tag verbracht hat. Was er da macht weiß ich nicht. Er erzählt es nicht.

Ich verbringe den Abend wie so oft, alleine.

Tagebuch 06.04.2010

Traum: Bienen. Sie sind um mich herum und ich will sie weg haben. Es werden immer mehr. Ich bekomme Panik. Sie sind an meinem Körper. An meiner Brust, an meinen Beinen. Ich laufe davon. Suche eine Möglichkeit, sie loszuwerden und laufe in eine Dusche. Sie ist aus Holz und steht im Freien. Ich drehe das Wasser an. Es ist ganz heiß. Ich halte den Strahl an die Tür, damit keine Bienen mehr eindringen. Ich halte das Wasser auch auf meinen Körper. Die Bienen fallen tot herunter. Sie liegen auf dem Boden. Es sind so viele. Ich bin überrascht.

Traum: Ich sehe meine Schwiegermutter. Ich rede mit ihr. Dann denke ich, das kann nicht sein und ich sage, du bist tot und dann gehe ich fort. Ich habe keine Lust mehr, mich auf sie und die Vergangenheit einzulassen.

Tagebuch 07.04.2010

Der Mobber ist nach Istanbul gekommen, um mich zu kontrollieren und bestimmte Termine mit mir zusammen abzuwickeln. Er hat Angst, sein Gesicht zu verlieren. Ich spüre es. Da ich die Yoga-Reise nicht abgesagte habe, was er mir sehr übel nimmt, ist er gekommen um da zu sein, wenn ich weg bin. Wie krank ist das denn? Ich konnte die Reise nicht absagen, denn nur die Freude auf diese Reise hält mich noch irgendwie am Leben. Ich spürte, ich muss diese Reise machen und danach bin ich für alles gewappnet.

Nachmittags im Büro gibt es ein merkwürdiges Gefühl in meinem Ohr. Ein Absacken. Angst taucht auf.

Abends will er mit mir beim Essen ein Gespräch führen. Er erzählt viel. Jetzt würde alles besser werden usw. Ich spreche kaum. Ich weiß, ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Was er sagt und was ich fühle, stimmt nicht überein. Er will mich hinhalten und hinter meinem Rücken wird er handeln. Das habe ich begriffen. Er weiß, dass ich es weiß.

Tagebuch 08.04.2010

Nun ist es endlich soweit. Nach einer mit Träumen durchwachsenen Nacht (von der Arbeit und dem Mobber) trete ich meine Reise an. Sie beginnt mit der ersten Fährenüberfahrt mit dem Auto von Istanbul nach Yalova. Und wie in meinem Traum angedeutet, wäre sie fast nicht zustande gekommen, weil es jemand unbedingt verhindern wollte. Doch nun sitze ich hier an Deck. Ich bzw. die Reise ist nicht ins Wasser gefallen aber es regnet. Ich bin etwas verspannt. Auf der Fähre laufen alle Fernseher und der Ton ist leider auch an. Die Menschen haben Angst vor der Stille.

Ich will ständig weinen. Vielleicht weil Reisen immer ein Abschied ist und weil die Anspannung langsam abfällt?

Ich denke an zu Hause und hoffe, dass sich dort alle vertragen. Nachdem ich in Yalova angekommen bin liegt noch eine fünfstündige Autofahrt vor mir, bevor ich in Ayvalik um 17.15 Uhr auf die Fähre nach Griechenland gehe.


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